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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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verfangen hätte und wieder losgemacht werden müsste.
    »Entschuldigung«, sagt er, »ich wollte mich nicht einmischen.«
    Sie lässt sich zu keiner Antwort herab.
    Als er sich später die Episode noch einmal durch den Kopf gehen lässt, fragt er sich, warum er kein Gefühl für Inés als Frau hat, nicht das kleinste Fünkchen, obwohl an ihrem Aussehen nichts auszusetzen ist. Kommt das, weil sie ihm gegenüber so feindselig ist, von Anfang an gewesen ist; oder ist sie unattraktiv, weil sie sich weigert, attraktiv zu sein, sich zu öffnen? Ist sie vielleicht wirklich eine Jungfrau, wie Elena versichert, oder zumindest der jungfräuliche Typ? Was er von Jungfrauen einmal gewusst hat, ist in Wolken des Vergessens verloren. Unterdrückt die Aura des Jungfräulichen das Begehren eines Mannes oder heizt sie es an? Er denkt an Ana vom Umsiedlungszentrum, die ihm wie eine Jungfrau eines ziemlich temperamentvollen Typs vorkommt. Ana fand er ganz bestimmt attraktiv. Was hat Ana, das Inés fehlt? Oder sollte man die Frage umgekehrt stellen: Was hat Inés, das Ana fehlt?
     
    »Ich bin gestern zufällig mit Inés und David zusammengetroffen«, erzählt er Elena. »Siehst du sie oft?«
    »Ich sehe sie hier und da in der Siedlung. Wir haben nicht miteinander gesprochen. Ich glaube nicht, dass sie viel mit den Bewohnern zu tun haben will.«
    »Ich vermute, wenn man an das Leben in La Residencia gewöhnt ist, muss es hart sein, wenn man dann hier in der Siedlung wohnt.«
    »Das Leben in La Residencia macht sie nicht besser als uns. Wir haben alle bei null angefangen. Es ist reine Glückssache, dass sie dort oben gelandet ist.«
    »Was glaubst du, wie wird sie mit der Mutterrolle fertig?«
    »Sie ist sehr fürsorglich gegenüber dem Kind. Überfürsorglich, meiner Meinung nach. Sie beobachtet den Jungen wie ein Habicht, will ihn nicht mit anderen Kindern spielen lassen. Das weißt du ja. Fidel kann das nicht verstehen. Er ist verletzt.«
    »Das tut mir leid. Was hast du noch gesehen?«
    »Ihre Brüder besuchen sie oft. Sie haben ein Auto – eins der kleinen Viersitzer mit einem Dach, das man zurückrollen kann, ich glaube, es heißt Cabriolet. Sie fahren alle mit dem Auto fort und kommen nach Einbruch der Dunkelheit zurück.«
    »Der Hund auch?«
    »Der Hund auch. Überall wo Inés hingeht, begleitet sie der Hund. Ich finde das unheimlich. Er ist wie eine Sprungfeder. Bald einmal wird er jemanden angreifen. Ich bete nur, dass es kein Kind ist. Kann man sie nicht überreden, ihm einen Maulkorb anzulegen?«
    »Keine Chance.«
    »Nun, ich finde es verrückt, einen bissigen Hund zu halten, wenn man ein Kind hat.«
    »Es ist kein bissiger Hund, Elena, nur etwas unberechenbar. Unberechenbar, aber treu. Das ist offenbar für Inés das Wichtigste. Treue, Königin der Tugenden.«
    »Wirklich? So würde ich sie nicht bezeichnen. Ich würde sie als eine Tugend aus dem Mittelfeld bezeichnen, wie Mäßigung. Die Art Tugend, die man von einem Soldaten erwartet. Inés kommt mir selbst ein wenig wie ein Wachhund vor, wie sie ständig um David herum ist, um Gefahr abzuwehren. Warum, um Himmels willen, hast du eine solche Frau ausgesucht? Du warst ihm ein besserer Vater als sie ihm eine Mutter ist.«
    »Das ist nicht wahr. Ein Kind kann nicht ohne Mutter aufwachsen. Hast du das nicht selbst gesagt: Der Mutter verdankt das Kind seine Substanz, während der Vater nur die Idee liefert? Wenn die Idee einmal übertragen wurde, ist der Vater entbehrlich. Und in diesem Fall bin ich nicht einmal der Vater.«
    »Ein Kind braucht den Schoß einer Mutter, um auf die Welt zu kommen. Nachdem es den Schoß verlassen hat, ist die Mutter als Lebensspenderin genauso passé wie der Vater. Was ein Kind von da an braucht, ist Liebe und Fürsorge, die ein Mann genauso geben kann wie eine Frau. Deine Inés weiß nichts von Liebe und Fürsorge. Sie ist wie ein kleines Mädchen mit einer Puppe – ein ungewöhnlich eifersüchtiges und egoistisches kleines Mädchen, das niemanden anders sein Spielzeug anfassen lässt.«
    »Unfug. Du verurteilst Inés bereitwillig, aber du kennst sie kaum.«
    »Und du? Wie gut hast du sie gekannt, bevor du ihr deinen teuren Schützling übergeben hast? Ihre Eignung als Mutter zu erforschen sei nicht nötig gewesen, hast du gesagt: Du konntest dich auf deine Intuition verlassen. Du würdest die wahre Mutter auf der Stelle erkennen, sobald du sie erblicktest. Intuition – was ist das für eine Grundlage, um über die Zukunft eines Kindes zu

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