Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
Vom Netzwerk:
entscheiden?«
    »Das haben wir doch alles schon durchgenommen, Elena. Was ist verkehrt an natürlicher Intuition? Auf was sonst können wir uns am Ende verlassen?«
    »Auf den gesunden Menschenverstand. Auf die Vernunft. Jeder vernünftige Mensch hätte dir sagen können, dass eine dreißigjährige Jungfrau, die an ein müßiges Leben gewöhnt und von der realen Welt abgeschottet war und von zwei rüpelhaften Brüdern bewacht wurde, keine zuverlässige Mutter abgeben würde. Jeder vernünftige Mensch hätte sich über diese Inés erkundigt, ihre Vergangenheit durchleuchtet, ihren Charakter geprüft. Jeder vernünftige Mensch hätte eine Probezeit verhängt, um abzusichern, dass sie miteinander auskommen, das Kind und seine Betreuerin.«
    Er schüttelt den Kopf. »Du begreifst immer noch nicht. Meine Aufgabe war, den Jungen zu seiner Mutter zu bringen. Nicht etwa, ihn zu
einer
Mutter zu bringen, zu einer Frau, die einen wie auch immer gearteten Mutterschaftstest bestanden hat. Es spielt keine Rolle, wenn Inés nach deinen oder meinen Maßstäben keine besonders gute Mutter ist. Tatsache ist, sie ist
seine
Mutter. Er ist bei
seiner
Mutter.«
    »Aber Inés ist nicht
seine
Mutter! Sie hat ihn nicht empfangen! Sie hat ihn nicht im Schoß getragen! Sie hat ihn nicht mit Schmerzen zur Welt gebracht! Sie ist einfach jemand, den du aufgrund einer fixen Idee ausgewählt hast, so weit ich weiß, weil sie dich an deine eigene Mutter erinnert hat.«
    Er schüttelt wieder den Kopf. »Als ich Inés erblickte, wusste ich es sofort. Wenn wir nicht der Stimme vertrauen, die in uns spricht und sagt:
Diese da ist es!
, dann können wir auf nichts mehr vertrauen.«
    »Dass ich nicht lache! Innere Stimmen! Leute verlieren ihre Ersparnisse beim Pferderennen, weil sie inneren Stimmen gehorchen. Leute stürzen sich in katastrophale Liebesaffären, weil sie auf innere Stimmen hören. Es –«
    »Ich bin nicht in Inés verliebt, wenn du das andeuten willst. Weit entfernt davon.«
    »Vielleicht bist du ja nicht verliebt in sie, doch du bist unvernünftig fixiert auf sie, was noch schlimmer ist. Du bist überzeugt, dass sie das Schicksal deines Kindes ist. Die Wahrheit ist jedoch, Inés hat keine Beziehung, weder eine mystische noch eine andere, mit dir und deinem Jungen. Sie ist bloß eine x-beliebige Frau, auf die du eine private Obsession projiziert hast. Wenn dem Kind bestimmt war, mit seiner Mutter vereint zu werden, wie du sagst, warum konntest du es dann nicht dem Schicksal überlassen, sie zusammenzuführen? Warum musstest du dich einmischen?«
    »Weil es nicht genügt, herumzusitzen und auf das Eingreifen des Schicksals zu warten, Elena, wie es auch nicht genügt, eine Idee zu haben und sich dann zurückzulehnen und auf ihre Verwirklichung zu warten. Einer muss die Idee in die Welt bringen. Einer muss im Auftrag des Schicksals handeln.«
    »Das ist genau, was ich gesagt habe. Du kommst mit irgendeiner privaten Idee davon, was eine Mutter ist, die du dann auf diese Frau projizierst.«
    »Das ist keine vernünftige Diskussion mehr, Elena. Ich höre nur Feindseligkeit, Feindseligkeit und Vorurteil und Eifersucht.«
    »Es ist weder Feindseligkeit noch Vorurteil, und es Eifersucht zu nennen, ist noch absurder. Ich versuche, dir zu verstehen zu helfen, woher diese deine heilige Intuition kommt, der du mehr vertraust als dem Zeugnis deiner Sinne. Sie kommt aus deinem Inneren. Sie hat ihren Ursprung in einer Vergangenheit, die du vergessen hast. Sie hat nichts mit dem Jungen oder seinem Wohlergehen zu tun. Wenn dich das Wohlergehen des Jungen irgendwie interessieren würde, würdest du ihn unverzüglich zurückfordern. Diese Frau ist schlecht für ihn. Er entwickelt sich unter ihrer Betreuung rückwärts. Sie macht ihn zum Kleinkind.
    Du könntest ihn heute zurückbekommen, wenn du es wolltest. Du könntest einfach hingehen und ihn ihr wegnehmen. Sie hat kein Recht auf ihn. Sie ist eine völlig fremde Person. Du könntest dein Kind wiederfordern, du könntest deine Wohnung wiederfordern, und die Frau könnte zurück nach La Residencia, wo sie hingehört – zu ihren Brüdern und ihren Tennisspielen. Warum machst du es nicht? Oder hast du Angst – Angst vor ihren Brüdern, Angst vor dem Hund?«
    »Elena, hör auf. Bitte, hör auf. Ja, ich fürchte mich vor ihren Brüdern. Ja, ihr Hund beunruhigt mich. Aber nicht deswegen weigere ich mich, ihr das Kind wieder wegzunehmen. Ich weigere mich, das ist alles. Was glaubst du denn, mache ich wohl in

Weitere Kostenlose Bücher