Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
nicht?«
»Weil Sancho weiß, dass der Riese eigentlich eine Windmühle ist, und man kann nicht gegen eine Windmühle kämpfen. Eine Windmühle ist kein Lebewesen.«
»Er ist keine Windmühle, er ist ein Riese! Er ist nur auf dem Bild eine Windmühle.«
Er legt das Buch weg. »David«, sagt er, »
Don Quijote
ist ein ungewöhnliches Buch. Für die Frau in der Bücherei, die es uns ausgeliehen hat, scheint es ein einfaches Buch für Kinder zu sein, aber in Wahrheit ist es überhaupt nicht einfach. Es zeigt uns die Welt durch zwei Augenpaare, Don Quijotes Augen und Sanchos Augen. Für Don Quijote ist es ein Riese, gegen den er kämpft. Für Sancho ist es eine Windmühle. Die meisten von uns – vielleicht nicht du, aber dennoch die meisten von uns – werden mit Sancho einer Meinung sein, dass es eine Windmühle ist. Einschließlich des Künstlers, der ein Bild von einer Windmühle gezeichnet hat. Aber auch einschließlich des Mannes, der das Buch geschrieben hat.«
»Wer hat das Buch geschrieben?«
»Ein Mann mit Namen Benengeli.«
»Wohnt er in der Bücherei?«
»Das glaube ich nicht. Es ist nicht unmöglich, aber ich würde sagen, es ist unwahrscheinlich. Ich habe ihn dort bestimmt nicht bemerkt. Er wäre leicht zu erkennen. Er hat ein langes Gewand an und einen Turban auf dem Kopf.«
»Warum lesen wir Bengelis Buch?«
»Benengeli. Weil ich es in der Bücherei entdeckt habe. Weil ich dachte, es würde dir Spaß machen. Weil es gut für dein Spanisch sein wird. Was willst du sonst noch wissen?«
Der Junge schweigt.
»Wir wollen hier aufhören und morgen mit dem nächsten Abenteuer von Don Quijote und Sancho fortfahren. Ich erwarte, dass du morgen
Sancho
mit dem großen
S
und
Don Quijote
mit dem lockigen
Q
zeigen kannst.«
»Es sind nicht die Abenteuer von Don Quijote und Sancho. Es sind die Abenteuer von Don Quijote.«
Neunzehn
E iner von den größeren Frachtern, die Álvaro Doppelbauch-Frachter nennt, ist im Hafen eingelaufen, mit Laderaum vorn und achtern. Die Arbeiter teilen sich in zwei Mannschaften auf. Er, Simón, schließt sich der Mannschaft vorn an.
Mitten am Vormittag am ersten Tag des Löschens, als er unten im Laderaum ist, hört er auf dem Deck ein Durcheinander und das Schrillen einer Pfeife. »Das ist das Feuersignal«, sagt einer seiner Kameraden. »Schnell raus!«
Er riecht schon Rauch, als sie die Leiter hochklettern. In Schwaden steigt er achtern aus dem Frachtraum. »Alle raus!«, brüllt Álvaro von seiner Stellung auf der Brücke neben dem Kapitän. »Alle an Land!«
Kaum haben die Schauerleute ihre Leitern hochgezogen, als die Schiffsmannschaft die mächtigen Ladelukendeckel zuzieht.
»Löschen sie das Feuer nicht?«, fragt er.
»Sie hungern es aus«, antwortet sein Kamerad. »In ein bis zwei Stunden ist es erloschen. Aber die Ladung ist dann verdorben, ganz sicher. Wir könnten sie gleich an die Fische verfüttern.«
Die Schauerleute versammeln sich auf dem Kai. Álvaro beginnt zu überprüfen, ob alle da sind. »Adriano … Augustín … Alexandre …« »Hier … hier … hier«, kommt zur Antwort. Bis er zu Marciano gelangt. »Marciano …« Stille. »Hat einer Marciano gesehen?« Stille. Aus dem abgedeckten Laderaum steigt ein dünnes Rauchfähnchen in die windstille Luft.
Die Seeleute ziehen die Lukendeckel wieder fort. Sofort sind sie von dickem grauen Rauch umgeben. »Zudecken!«, befiehlt der Kapitän; und zu Álvaro sagt er: »Wenn euer Mann dort unten ist, ist es aus mit ihm.«
»Wir lassen ihn nicht im Stich«, sagt Álvaro. »Ich gehe runter.«
»Nicht solange ich das Kommando habe.«
Mittags werden die Ladeluken achtern für kurze Zeit wieder geöffnet. Der Rauch ist noch genauso dick. Der Kapitän gibt das Kommando zum Fluten des Frachtraums. Die Hafenarbeiter werden fortgeschickt.
Er erzählt Inés die Ereignisse des Tages. »Was mit Marciano passiert ist, werden wir mit Bestimmtheit erst erfahren, wenn sie den Laderaum morgen früh auspumpen«, sagt er.
»Was werdet ihr über Marciano erfahren? Was ist mit ihm passiert?«, fragt der Junge, der sich in die Unterhaltung einschaltet.
»Ich vermute, dass er eingeschlafen ist. Er war unvorsichtig und hat zuviel Rauch eingeatmet. Wenn man zu viel Rauch einatmet, wird man schwach und benommen und schläft ein.«
»Und dann?«
»Und dann wacht man leider in diesem Leben nicht mehr auf.«
»Stirbt man?«
»Ja, man stirbt.«
»Wenn er gestorben ist, wird er in das nächste Leben kommen«, sagt Inés.
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