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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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ist, er aber nicht wirklich tot ist?«
    »Seine Lunge. Wir atmen mit unserer Lunge, nicht unserem Bauch. Wenn Marciano Rauch in seine Lunge eingeatmet hat, dann ist er mit Sicherheit tot.«
    »Das ist nicht wahr! Das sagst du nur so! Können wir in den Hafen gehen, bevor die Totengräber hinkommen? Können wir jetzt hingehen?«
    »Jetzt, im Dunkeln? Nein, ganz bestimmt nicht. Warum bist du so erpicht darauf, Marciano zu sehen, mein Junge? Ein toter Körper ist nicht wichtig. Die Seele ist wichtig. Marcianos Seele ist der richtige Marciano; und die Seele ist unterwegs zum nächsten Leben.«
    »Ich will Marciano sehen! Ich möchte den Rauch aus ihm heraussaugen! Ich will nicht, dass er begraben wird!«
    »David, wenn wir Marciano zurückbringen könnten, indem der Rauch aus seinen Lungen gesaugt wird, dann hätten die Seeleute das längst getan, das kannst du mir glauben. Seeleute sind wie wir, voll guten Willens. Aber man kann Menschen nicht ins Leben zurückbringen, indem man ihre Lunge aussaugt, nicht nach ihrem Tod. Es ist eins der Naturgesetze. Wenn man einmal tot ist, ist man tot. Der Körper kehrt nicht ins Leben zurück. Nur die Seele lebt weiter: Marcianos Seele, meine Seele, deine Seele.«
    »Das ist nicht wahr! Ich habe keine Seele! Ich will Marciano retten!«
    »Das erlaube ich nicht. Wir werden alle zu Marcianos Begräbnis gehen, und da wirst du, wie alle anderen auch, die Gelegenheit haben, dich mit einem Kuss von ihm zu verabschieden. So wird es sein, und damit Schluss. Ich werde nicht weiter über Marcianos Tod sprechen.«
    »Du kannst mir nicht sagen, was ich machen soll! Du bist nicht mein Vater! Ich werde Inés fragen!«
    »Ich kann dir versichern, Inés wird nicht im Dunklen mit dir zum Hafen laufen. Sei vernünftig. Ich weiß, dass du gern Menschen retten willst, und das ist bewundernswert, aber manchmal wollen die Menschen nicht gerettet werden. Lass Marciano in Ruhe. Marciano ist gegangen. Wir wollen uns an seine guten Seiten erinnern und seine Hülle loslassen. Komm jetzt: Inés wartet darauf, dir deine Gutenachtgeschichte zu erzählen.«
     
    Als er am nächsten Morgen seinen Dienst antritt, ist das Auspumpem des Laderaums achtern fast beendet. Nach einer Stunde kann ein Team von Seeleuten hinabsteigen; und bald darauf wird der Körper des verunglückten Kameraden auf eine Trage geschnallt auf das Deck hinaufgetragen, während die Hafenarbeiter schweigend vom Kai aus zusehen.
    Álvaro spricht zu ihnen. »In ein oder zwei Tagen werden wir Gelegenheit haben, unseren Freund angemessen zu verabschieden, Jungs«, sagt er. »Aber jetzt heißt es: Arbeit wie gewöhnlich. Im Frachtraum sieht es furchtbar aus, und es ist unsere Aufgabe, dort aufzuräumen.«
    Den ganzen übrigen Tag sind die Schauerleute unten im Frachtraum, knöcheltief im Wasser, umgeben vom beißenden Gestank nasser Asche. Jeder einzelne Kornsack ist aufgeplatzt; es ist ihre Aufgabe, die klebrige Masse in Eimer zu schaufeln und sie von einem zum anderen aufs Deck hinaufzubefördern, wo der Inhalt dann über Bord gekippt wird. Es ist eine freudlose Arbeit, schweigend getan an einem Ort des Todes. Als er an diesem Abend in Inés’ Wohnung ankommt, ist er erschöpft und in trüber Stimmung.
    »Haben Sie vielleicht etwas zu trinken für mich?«, fragt er sie.
    »Tut mir leid, mir ist alles ausgegangen. Ich mache Ihnen Tee.«
    Auf seinem Bett ausgestreckt ist der Junge in sein Buch vertieft. Marciano ist vergessen.
    »Hallo«, begrüßt er ihn. »Wie geht’s Don heute? Was hat er vor?«
    Der Junge ignoriert die Frage. »Wie heißt das Wort?«, fragt er und zeigt darauf.
    »Es heißt
Aventuras
, mit einem großen
A
. Die Abenteuer von Don Quijote.«
    »Und das Wort da?«
    »
Fantástico
, mit einem
f
. Und das Wort – erinnerst du dich an den großen Buchstaben
Q
? – heißt
Quijote
. Quijote kannst du immer an dem großen
Q
erkennen. Ich dachte, du hast mir gesagt, du würdest alle Buchstaben kennen.«
    »Ich will keine Buchstaben lesen. Ich will die Geschichte lesen.«
    »Das ist unmöglich. Eine Geschichte ist aus Wörtern gemacht, und Wörter sind aus Buchstaben gemacht. Ohne Buchstaben gäbe es keine Geschichte, keinen Don Quijote. Du musst die Buchstaben kennen.«
    »Zeig mir, welches Wort
fantástico
ist.«
    Er legt den Zeigefinger des Jungen auf das Wort. »Hier.« Die Fingernägel sind sauber und ordentlich geschnitten; während seine eigene Hand, die einmal so weich und sauber war, aufgesprungen und dreckig ist, mit tief in

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