Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
»Man muss sich also keine Sorgen um ihn machen. Es ist Zeit für dein Bad. Komm.«
»Kann Simón mich baden?«
Er hat den Jungen lange nicht mehr nackt gesehen. Er bemerkt erfreut, dass er kräftiger geworden ist.
»Steh auf«, sagt er und spült den letzten Seifenrest ab und wickelt ihn in ein Handtuch. »Wir wollen dich rasch abtrocknen, dann kannst du deinen Schlafanzug anziehen.«
»Nein«, sagt der Junge. »Inés soll mich abtrocknen.«
»Er will, dass Sie ihn abtrocknen«, berichtet er Inés. »Ich bin nicht gut genug.«
Auf seinem Bett ausgestreckt lässt der Junge sich von Inés betreuen, die ihn zwischen den Zehen abtrocknet und in der Poritze. Er hat den Daumen im Mund; seine Augen, die vor Wonne schwimmen, folgen ihr träge.
Sie bestäubt ihn mit Puder, als wäre er ein Baby; sie hilft ihm in seinen Schlafanzug.
Es ist Zeit fürs Bett, aber er will sich nicht von der Geschichte Marcianos abbringen lassen. »Vielleicht ist er gar nicht tot«, sagt er. »Können wir nicht hin und nachschauen, Inés und du und ich? Ich werde keinen Rauch einatmen, versprochen. Können wir hin?«
»Das hat keinen Zweck, David. Für eine Rettung Marcianos ist es zu spät. Und der Frachtraum des Schiffes ist sowieso voller Wasser.«
»Es ist nicht zu spät! Ich kann im Wasser hinuntertauchen und ihn retten, wie eine Robbe. Ich kann überall hinschwimmen. Ich hab’s dir erzählt, ich bin ein Entfesselungskünstler.«
»Nein, mein Junge, in einen gefluteten Laderaum hinunterzutauchen ist zu gefährlich, sogar für einen Entfesselungskünstler. Du könntest eingeklemmt werden und nie wieder auftauchen. Außerdem retten Entfesselungskünstler nicht andere Menschen, sie retten sich selbst. Und du bist keine Robbe. Du kannst noch gar nicht schwimmen. Es wird Zeit zu begreifen, dass man nicht durch Wünschen allein schwimmen lernen oder ein Entfesselungskünstler werden kann. Dazu ist jahrelanges Training nötig. Und überhaupt, Marciano will nicht gerettet, nicht in dieses Leben zurückgebracht werden. Marciano hat Frieden gefunden. Wahrscheinlich fährt er jetzt gerade über die Meere, in Erwartung des nächsten Lebens. Es wird ein großes Abenteuer für ihn, neu und reingewaschen anzufangen. Er muss nicht länger Schauermann sein und schwere Säcke auf den Schultern tragen. Er kann ein Vogel sein. Er kann alles sein, was er will.«
»Oder eine Robbe.«
»Ein Vogel oder eine Robbe. Oder sogar ein riesengroßer Wal. Es gibt keine Grenzen für das, was er im nächsten Leben sein kann.«
»Werden wir, du und ich, auch ins nächste Leben gehen?«
»Nur wenn wir sterben. Und wir werden nicht sterben. Wir werden lange leben.«
»Wie Helden. Helden sterben nicht, oder?«
»Nein, Helden sterben nicht.«
»Müssen wir im nächsten Leben Spanisch sprechen?«
»Bestimmt nicht. Andererseits müssen wir vielleicht Chinesisch lernen.«
»Und Inés? Wird Inés mitkommen?«
»Das muss sie entscheiden. Aber ich bin sicher, wenn du ins nächste Leben gehst, dann wird Inés dir folgen wollen. Sie liebt dich sehr.«
»Werden wir Marciano sehen?«
»Zweifellos. Aber vielleicht erkennen wir ihn nicht wieder. Wir denken vielleicht, dass wir bloß einen Vogel oder eine Robbe oder einen Wal sehen. Und Marciano – Marciano wird denken, er sieht ein Flußpferd, während es eigentlich du bist.«
»Nein, ich meine den richtigen Marciano, im Hafen. Werden wir den richtigen Marciano sehen?«
»Sobald der Frachtraum leergepumpt ist, wird der Kapitän Männer hinunterschicken, um Marcianos Körper heraufzuholen. Aber der richtige Marciano wird nicht mehr unter uns sein.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Nicht den richtigen Marciano. Der richtige Marciano ist unsichtbar für uns. Und der Körper, der Körper, aus dem Marciano entflohen ist, der wird weggeschafft worden sein, wenn wir im Hafen ankommen. Die Männer werden das beim ersten Tageslicht tun, während du noch schläfst.«
»Wohin weggeschafft?«
»Weggeschafft, um begraben zu werden.«
»Aber wenn er nun nicht tot ist? Wenn sie ihn nun begraben und er ist nicht tot?«
»Das wird nicht geschehen. Die Leute, die die Toten begraben, die Totengräber, passen auf, dass sie niemanden begraben, wenn er noch lebt. Sie lauschen auf einen Pulsschlag. Sie lauschen auf Atemzüge. Wenn sie nur den allerschwächsten Pulsschlag hören, dann begraben sie ihn nicht. Es gibt also keinen Grund zur Sorge. Marciano hat seinen Frieden –«
»Nein, du verstehst nicht! Wenn nun sein Bauch voller Rauch
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