Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
den Rissen sitzendem Schmutz.
Der Junge kneift die Augen zu, hält den Atem an, reißt die Augen weit auf.
»Fantástico.«
»Ausgezeichnet. Du hast gelernt, das Wort
fantástico
zu erkennen. Es gibt zwei Methoden, lesen zu lernen, David. Die eine ist, die Wörter eins nach dem anderen zu lernen, wie du es machst. Die andere Methode, die schnellere, ist, die Buchstaben zu lernen, aus denen die Wörter gemacht sind. Es gibt nur siebenundzwanzig davon. Wenn du sie erst einmal gelernt hast, kannst du unbekannte Wörter selbst buchstabieren, ohne dass ich sie dir jedes Mal sagen muss.«
Der Junge schüttelt den Kopf. »Ich will auf die erste Weise lesen. Wo ist der Riese?«
»Der Riese, der eigentlich eine Windmühle war?« Er wendet die Seiten um. »Hier ist der Riese.« Er legt den Zeigefinger des Jungen auf das Wort
gigante
.
Der Junge schließt die Augen. »Ich lese mit meinen Fingern«, verkündet er.
»Es ist egal, wie du liest, mit den Augen oder mit den Fingern wie ein Blinder, wenn du nur liest. Zeig mir
Quijote
, mit einem
Q
.«
Der Junge stößt mit den Finger auf die Seite. »Hier.«
»Nein.« Er schiebt den Finger des Jungen zur richtigen Stelle. »Da ist
Quijote
, mit dem großen
Q
.«
Der Junge reißt bockig seine Hand weg. »Das ist nicht sein richtiger Name – weißt du das nicht?«
»Das mag nicht sein weltlicher Name sein, der Name, unter dem ihn seine Nachbarn kennen, aber es ist der Name, den er sich aussucht, und der Name, unter dem wir ihn kennen.«
»Es ist nicht sein
richtiger
Name.«
»Was ist sein
richtiger
Name?«
Abrupt zieht sich der Junge zurück. »Du kannst gehen«, murmelt er. »Ich werde allein lesen.«
»Schön, ich werde gehen. Wenn du wieder zur Vernunft kommst, wenn du dich entscheidest, dass du ordentlich lesen lernen willst, ruf mich. Ruf mich und sage mir, den richtigen Namen des Don.«
»Werde ich nicht. Er ist geheim.«
Inés ist in kulinarische Aufgaben vertieft. Sie schaut nicht einmal auf, als er geht.
Ein Tag vergeht vor seinem nächsten Besuch. Er findet den Jungen wie zuvor über dem Buch brütend vor. Er versucht zu sprechen, doch der Junge winkt ungeduldig ab – »Schsch!« – und wendet die Seite mit einer raschen, heftigen Bewegung, als lauere dahinter eine Schlange, die ihn beißen könnte.
Auf dem Bild ist Don Quijote in Seile eingeschnürt und wird in ein Erdloch hinuntergelassen.
»Soll ich dir helfen? Soll ich dir erzählen, was geschieht?«, fragt er.
Der Junge nickt.
Er nimmt das Buch zur Hand. »Das ist eine Episode, die ›Die Höhle des Montesinos‹ heißt. Da Don Quijote viel von der Höhle des Montesinos gehört hatte, beschloss er bei sich, sich ihre berühmten Wunder selbst anzusehen. Er befahl also seinem Freund Sancho und dem Gelehrten – der Mann mit dem Hut muss der Gelehrte sein –, ihn in die dunkle Höhle hinabzulassen, und dann geduldig auf sein Signal zum Wiederheraufziehen zu warten.
Eine geschlagene Stunde saßen Sancho und der Gelehrte wartend am Eingang der Höhle.«
»Was ist ein Gelehrter?«
»Ein Gelehrter ist ein Mann, der viele Bücher gelesen hat und vieles gelernt hat. Eine geschlagene Stunde saßen Sancho und der Gelehrte wartend da, bis sie endlich einen Ruck am Seil spürten und es heraufzuziehen begannen, und so kam Don Quijote wieder ans Tageslicht.«
»Also war Don Quijote nicht tot?«
»Nein, er war nicht tot.«
Der Junge seufzt glücklich. »Das ist gut, was?«, sagt er.
»Ja, natürlich ist das gut. Aber warum hast du geglaubt, er wäre tot? Er ist Don Quijote. Er ist der Held.«
»Er ist der Held
und
er ist ein Zauberer. Man bindet ihn mit Stricken und steckt ihn in eine Kiste und wenn man die Kiste aufmacht, ist er nicht drin, er ist entkommen.«
»Oh, hast du gedacht, Sancho und der Gelehrte hätten Don Quijote gefesselt? Nein, wenn du das Buch lesen würdest, statt dir nur die Bilder anzuschauen und die Geschichte zu raten, wüsstest du, dass sie das Seil benutzen, um ihn aus der Höhle zu ziehen, nicht um ihn zu fesseln. Soll ich weiterlesen?«
Der Junge nickt.
»Huldvoll dankte Don Quijote seinen Freunden. Dann erheiterte er sie mit einem Bericht von allem, was sich in der Höhle des Montesinos zugetragen hatte. In den drei Tagen und drei Nächten, die er unter der Erde zugebracht hatte, wie er sagte, hatte er viel Wunderbares erblickt, nicht zuletzt Wasserfälle, deren Kaskaden nicht aus Wassertropfen, sondern aus blitzenden Diamanten bestanden, und Prozessionen von Prinzessinnen
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