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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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willst? Wenn du zur Schule gingst, würdest du andere gleichaltrige Kinder treffen. Du könntest lernen, richtig zu lesen.«
    »Inés sagt, ich würde in der Schule nicht individuell betreut werden.«
    »Individuell betreut! Was soll das heißen?«
    »Inés sagt, ich muss individuell gefördert werden, weil ich klug bin. Sie sagt, dass kluge Kinder in der Schule nicht individuell gefördert werden und sich dann langweilen.«
    »Und wie kommst du darauf, dass du so klug bist?«
    »Ich kenne alle Zahlen. Willst du sie hören? Ich kenne 134 und ich kenne 7 und ich kenne« – er holt tief Luft – » 4623551 und ich kenne 888 und ich kenne 92 und ich kenne –«
    »Halt! Das bedeutet nicht, die Zahlen zu kennen, David. Die Zahlen zu kennen bedeutet zählen zu können. Es bedeutet, die Reihenfolge der Zahlen zu kennen – welche Zahlen vorher und welche nachher kommen. Später wird es auch bedeuten, Zahlen addieren und subtrahieren zu können – von einer Zahl zu einer anderen mit einem Sprung zu kommen, ohne dazwischen alle Schritte aufzuzählen. Wenn man Zahlen aufsagen kann, heißt das nicht, dass man klug mit Zahlen umgehen kann. Du könntest hier stehen und den ganzen Tag Zahlen aufsagen, und du kämst nicht an ihr Ende, weil Zahlen kein Ende haben. Wusstest du das nicht? Hat dir das Inés nicht gesagt?«
    »Das stimmt nicht!«
    »Was stimmt nicht? Dass die Zahlen kein Ende haben? Dass keiner sie alle nennen kann?«
    »Ich kann sie alle nennen.«
    »Schön. Du sagst, du kennst 888 . Was ist die nächste Zahl nach 888 ?«
    » 92 .«
    »Falsch. Die nächste Zahl ist 889 . Welche von beiden ist größer, 888 oder 889 ?«
    » 888 .«
    »Falsch. 889 ist größer, weil 889 nach 888 kommt.«
    »Woher weißt du das? Du bist nicht dort
gewesen

    »Was soll das heißen, dort
gewesen
? Natürlich bin ich nicht bei 888 gewesen. Ich muss nicht dort gewesen sein, um zu wissen, dass 888 kleiner als 889 ist. Warum? Weil ich gelernt habe, wie Zahlen konstruiert sind. Ich habe die Gesetze der Arithmetik gelernt. Wenn du zur Schule gehst, wirst auch du die Gesetze lernen, und dann werden die Zahlen nicht mehr so etwas« – er sucht nach dem Wort – »so etwas Kompliziertes in deinem Leben sein.«
    Der Junge sagt nichts, aber betrachtet ihn kalt. Keinen Moment lang denkt er, dass seine Worte ihn nicht erreichen. Nein, sie werden aufgenommen, alle seine Worte: aufgenommen und abgelehnt. Warum nur will dieses Kind, so klug, so bereit, sich in der Welt zurechtzufinden, einfach nicht verstehen?
    »Du hast alle Zahlen besucht, erzählst du mir«, sagt er. »Dann nenne mir doch die letzte Zahl, die allerletzte Zahl von allen. Sag nur nicht, es ist Omega. Omega zählt nicht.«
    »Was ist Omega?«
    »Egal. Sag einfach nicht Omega. Nenne mir die letzte Zahl, die allerletzte.«
    Der Junge schließt die Augen und holt tief Luft. Er runzelt die Stirn vor Konzentration. Seine Lippen bewegen sich, doch er sagt kein Wort.
    Ein Vogelpaar lässt sich auf einem Ast über ihnen nieder, zwitschert leise zusammen, bereit zur Nachtruhe.
    Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass das nicht einfach ein kluges Kind ist – es gibt viele kluge Kinder auf der Welt –, sondern etwas anderes, etwas, für das ihm im Augenblick das Wort fehlt. Er fasst den Jungen an und schüttelt ihn sanft. »Das reicht«, sagt er. »Das reicht mit dem Zählen.«
    Der Junge erschrickt. Seine Augen öffnen sich, sein Gesicht verliert den verzückten, abwesenden Ausdruck und verzerrt sich. »Fass mich nicht an!«, kreischt er mit einer seltsam hohen Stimme. »Du machst, dass ich vergesse! Warum machst du, dass ich vergesse? Ich hasse dich!«
     
    »Wenn Sie nicht wollen, dass er zur Schule geht«, sagt er zu Inés, »dann lassen Sie mich ihm wenigstens das Lesen beibringen. Er ist bereit dazu, er wird es rasch mitbekommen.«
    Im Gemeindezentrum der Ostsiedlung gibt es eine winzige Bücherei, mit ein paar Regalen voller Bücher:
Anleitung zum Tischlern, Die Kunst des Häkelns, 101 Sommerrezepte
, und so weiter. Doch unter anderen Büchern liegt verkehrt herum, mit abgerissenem Rücken, eine bebilderte Ausgabe von
Don Quijote für Kinder
.
    Triumphierend zeigt er Inés seinen Fund.
    »Wer ist Don Quijote?«, fragt sie.
    »Ein Ritter in Rüstung, aus der alten Zeit.« Er öffnet das Buch auf der Seite mit der ersten Illustration: ein großer, hagerer Mann mit einem dünnen Bart, bekleidet mit einer Rüstung, auf einer müde wirkenden Mähre sitzend; neben ihm ein kugelrunder

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