Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Unsinn erfinden und so tun, als könntest du über ihn lesen.«
»Doch! Es ist kein Unsinn, und ich kann lesen! Es ist nicht dein Buch, es ist mein Buch!« Und mit gerunzelter Stirn blättert er wieder wild die Seiten um.
»Ganz im Gegenteil, es ist Señor Benengelis Buch, das er der Welt geschenkt hat, deshalb gehört es uns allen – auf eine Weise uns allen und auf andere Weise der Bücherei, aber auf keine Weise dir allein. Und hör auf, so an den Seiten zu zerren. Warum gehst du mit dem Buch so grob um?«
»Darum. Weil sich ein Loch öffnet, wenn ich nicht schnell mache.«
»Wo öffnet?«
»Zwischen den Seiten.«
»Das ist Unsinn. Es gibt kein Loch zwischen den Seiten.«
»Da ist ein Loch. Es ist in der Seite. Du siehst es nicht, weil du überhaupt nichts siehst.«
»Schluss jetzt!«, sagt Inés.
Einen Moment lang denkt er, dass sie zum Kind spricht. Einen Moment lang denkt er, sie habe sich schließlich durchgerungen, David für seine Starrköpfigkeit zu tadeln. Aber nein, ihn funkelt sie an.
»Ich dachte, Sie wollten, dass er lesen lernt«, sagt er.
»Nicht mit all diesem Gezänk. Finden Sie ein anderes Buch. Finden Sie ein einfacheres Buch. Dieser
Don Quijote
ist zu schwer für ein Kind. Bringen Sie es in die Bücherei zurück.«
»Nein!« Der Junge umklammert fest das Buch. »Du nimmst es mir nicht weg! Es ist mein Buch!«
Zwanzig
S eit Inés die Wohnung übernommen hat, hat diese ihre einst nüchterne Atmosphäre verloren. Inzwischen herrscht in ihr tatsächlich ein ziemliches Durcheinander, und nicht nur durch ihre vielen Sachen. Am schlimmsten ist die Ecke beim Bett des Jungen, wo aus einem Pappkarton Gegenstände herausquellen, die er gesammelt und mit nach Hause gebracht hat: Steine, Kiefernzapfen, verwelkte Blumen, Knochen, Muscheln, Tonscherben und Altmetall.
»Wäre es nicht Zeit, das ganze Gerümpel rauszuschmeißen?«, regt er an.
»Es ist kein Gerümpel«, sagt der Junge. »Das sind Dinge, die ich rette.«
Er versetzt dem Karton einen leichten Tritt. »Es ist Müll. Du kannst nicht jedes Ding, das du findest, retten.«
»Es ist mein Museum«, sagt der Junge.
»Ein Haufen Müll ist kein Museum. Dinge müssen einen gewissen Wert haben, bevor sie einen Platz in einem Museum bekommen.«
»Was ist Wert?«
»Wenn Dinge einen Wert haben, bedeutet das, dass die Menschen allgemein sie schätzen und übereinstimmend der Meinung sind, sie seien wertvoll. Eine alte kaputte Tasse hat keinen Wert. Niemand schätzt sie.«
»Ich schätze sie. Es ist mein Museum, nicht deins.«
Er wendet sich an Inés. »Findet das Ihre Zustimmung?«
»Lassen Sie ihn in Frieden. Er sagt, die alten Dinge tun ihm leid.«
»Eine alte Tasse ohne Henkel kann einem nicht leidtun.«
Der Junge starrt ihn verständnislos an.
»Eine Tasse hat keine Gefühle. Wenn man sie wegwirft, macht ihr das nichts aus. Sie wäre nicht beleidigt. Wenn dir eine alte Tasse leidtut, könnte dir ebenso gut« – er sucht verzweifelt nach etwas – »der Himmel, die Luft, die Erde unter deinen Füßen leidtun. Dir könnte wirklich alles leidtun.«
Der Junge starrt ihn weiter an.
»Dinge sind nicht für die Ewigkeit geschaffen«, sagt er. »Jedes Ding hat seine natürliche Lebensdauer. Diese alte Tasse hat ein gutes Leben gehabt; jetzt ist es Zeit für sie, sich zurückzuziehen und Platz für eine neue Tasse zu machen.«
Der störrische Ausdruck, der ihm inzwischen so vertraut ist, erscheint auf dem Gesicht des Jungen. »Nein!«, sagt er. »Ich behalte sie! Du darfst sie mir nicht wegnehmen! Sie gehört mir!«
Da Inés ihm alles durchgehen lässt, wird der Junge immer eigensinniger. Es vergeht kein Tag ohne eine Auseinandersetzung, ohne erhobene Stimmen und Fußgestampfe.
Er drängt sie, ihn zur Schule zu schicken. »Die Wohnung wird für ihn zu klein«, sagt er. »Er muss sich der Realität stellen. Er muss seinen Horizont erweitern.« Doch sie leistet weiter Widerstand.
»Wo kommt das Geld her?«, fragt der Junge.
»Das kommt darauf an, was für Geld du meinst. Münzen kommen von einem Ort, der Münzanstalt genannt wird.«
»Bekommst du dein Geld von der Münzanstalt?«
»Nein, ich bekomme mein Geld vom Zahlmeister im Hafen. Das hast du gesehen.«
»Warum gehst du nicht zur Münzanstalt?«
»Weil die Münzanstalt uns nicht einfach so Geld geben würde. Wir müssen dafür arbeiten. Wir müssen es verdienen.«
»Warum?«
»Weil das der Lauf der Welt ist. Wenn wir nicht für unser Geld arbeiten müssten, wenn die
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