Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
Simón! Kommt! Señor Daga ist da!«
Er flucht leise vor sich hin. Wenn sie Daga erwartet hat, warum hat sie ihn nicht gewarnt? Was sieht sie denn überhaupt in dem Mann, mit seinem großspurigen Geprahle und seinem pomadigen Geruch und dem monotonen Genäsel?
Señor Daga ist nicht allein gekommen. Bei ihm ist seine hübsche Freundin, in einem weißen Kleid mit Rüschen in spektakulärem Rot und schweren Ohrringen in der Form von Wagenrädern, die schaukeln, wenn sie sich bewegt. Inés begrüßt sie mit frostiger Zurückhaltung. Was Daga angeht, scheint er sich in der Wohnung ziemlich zu Hause zu fühlen, liegt faul auf dem Bett und unternimmt nichts, um es dem Mädchen zu erleichtern.
»Señor Daga möchte mit uns tanzen gehen«, verkündet der Junge. »Können wir tanzen gehen?«
»Wir werden heute Abend in La Residencia erwartet. Das weißt du.«
»Ich möchte nicht zu La Residencia! Es ist langweilig! Ich will tanzen gehen!«
»Du kannst nicht tanzen gehen. Du bist zu jung.«
»Ich kann tanzen! Ich bin nicht zu jung! Ich zeige es euch.« Und er wirbelt auf dem Boden herum, mit leichtem Tritt und in seinen weichen blauen Schuhen nicht ohne Anmut. »Da! Seht ihr?«
»Wir gehen nicht tanzen«, sagt Inés bestimmt. »Diego kommt uns abholen und wir fahren mit ihm zu La Residencia.«
»Dann müssen Señor Daga und Frannie mitkommen!«
»Señor Daga hat eigene Pläne. Du kannst nicht erwarten, dass er sie fallenläßt und mit uns kommt.« Sie spricht, als wäre Daga nicht anwesend. »Außerdem, wie du sehr gut weißt, sind Besucher in La Residencia nicht erlaubt.«
»Ich bin ein Besucher«, wendet der Junge ein. »Mir erlauben sie es.«
»Ja, aber bei dir ist es etwas anderes. Du bist mein Kind. Du bist das Licht meines Lebens.«
Das Licht meines Lebens
. Was für eine überraschende Aussage vor Fremden!
Jetzt tritt Diego auf, und auch der andere Bruder, der nie den Mund aufmacht. Inés begrüßt sie mit Erleichterung. »Wir sind fertig. David, hol deine Sachen.«
»Nein!«, sagt der Junge. »Ich will nicht gehen. Ich will eine Party. Können wir eine Party machen?«
»Für eine Party ist keine Zeit, und wir haben nichts, was wir unseren Gästen anbieten können.«
»Das stimmt nicht! Wir haben Wein! In der Küche!« Und im Handumdrehen ist er auf das Küchenbüfett gestiegen und langt nach dem obersten Fach. »Siehst du!«, schreit er und zeigt triumphierend die Flasche. »Wir haben Wein!«
Inés wird dunkelrot und versucht, ihm die Flasche wegzunehmen – »Es ist nicht Wein, es ist Sherry«, sagt sie – aber er weicht ihr aus. »Wer möchte Wein? Wer möchte Wein?«, ruft er.
»Ich!«, sagt Diego; und »ich!«, sagt der schweigsame Bruder. Sie lachen, alle beide, über die Verlegenheit ihrer Schwester. Señor Daga schließt sich an. »Und ich!«
Es gibt nicht genug Trinkgefäße für alle sechs, deshalb geht der Junge mit der Flasche und einem Glas herum, gießt jedem Sherry ein und wartet feierlich, bis das Glas geleert ist.
Er kommt zu Inés. Stirnrunzelnd wehrt sie ab. »Du musst aber!«, befiehlt der Junge. »Ich bin heute Abend der König, und ich befehle, du musst trinken!«
Inés nimmt einen damenhaften Schluck.
»Und jetzt ich«, verkündet der Junge, und ehe einer ihn daran hindern kann, setzt er die Flasche an die Lippen und nimmt einen herzhaften Schluck. Einen Augenblick sieht er triumphierend in die versammelte Runde. Dann würgt er, hustet, spuckt. »Ist das scheußlich!«, japst er. Die Flasche entgleitet seiner Hand; Señor Daga rettet sie geschickt.
Diego und sein Bruder lachen sich halbtot. »Was gebricht dir, edler König?«, schreit Diego. »Vermagst du deinen Schnaps nicht bei dir zu behalten?«
Der Junge kommt wieder zu Atem. »Mehr!«, schreit er. »Mehr Wein!«
Wenn Inés nichts tut, dann ist es Zeit für ihn, Simón, sich einzumischen. »Schluss jetzt!«, sagt er. »Es ist spät, David, Zeit für unsere Gäste aufzubrechen.«
»Nein!«, sagt der Junge. »Es ist nicht spät! Ich will ein Spiel spielen. Ich will spielen ›Wer bin ich?‹.«
»Wer bin ich?«, sagt Daga. »Wie spielt man das?«
»Du musst jemanden spielen, und dann müssen alle raten, wer du bist. Das letzte Mal habe ich gespielt, ich bin Bolívar, und Diego hat es sofort erraten, stimmt’s, Diego?«
»Und was ist die Strafe?«, fragt Daga. »Was für eine Strafe bekommst du, wenn wir richtig raten?«
Der Junge scheint verblüfft.
»So wie wir es früher immer gespielt haben«, sagt Daga,
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