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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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»musst du, wenn wir richtig geraten haben, ein Geheimnis erzählen, dein liebstes Geheimnis.«
    Der Junge schweigt.
    »Wir müssen los, es ist keine Zeit mehr für Spiele«, sagt Inés schwach.
    »Nein!«, sagt der Junge. »Ich will ein anderes Spiel spielen. Ich will ›Wahrheit oder Pflicht‹ spielen.«
    »Das klingt besser«, sagt Daga. »Sag uns, wie du ›Wahrheit oder Pflicht‹ spielst.«
    »Ich stelle eine Frage und ihr müsst antworten und dürft nicht lügen, ihr müsst die Wahrheit sagen. Wenn ihr nicht die Wahrheit sagt, bekommt ihr eine Strafe. Klar? Ich fange an. Diego, hast du einen sauberen Hintern?«
    Stille. Der zweite Bruder wird rot im Gesicht, dann bricht er in laut schnaubendes Gelächter aus. Der Junge lacht entzückt und wirbelt in einem Tänzchen herum. »Los!«, schreit er. »Wahrheit oder Pflicht!«
    »Nur eine Runde«, gibt Inés nach. »Und keine ungezogenen Fragen mehr.«
    »Keine ungezogenen Fragen«, stimmt der Junge zu. »Ich bin wieder dran. Meine Frage geht an« – sein Blick wandert im Zimmer herum, von einem Gesicht zum anderen – »meine Frage geht an … Inés! Inés, wen hast du am allerliebsten auf der Welt?«
    »Dich. Ich habe dich am allerliebsten.«
    »Nein, nicht mich! Welchen
Mann
hast du am liebsten auf der Welt, der dir ein Baby in den Bauch machen soll?«
    Schweigen. Inés hat die Lippen aufeinandergepresst.
    »Hast du ihn lieb oder ihn oder ihn oder ihn?«, fragt der Junge und zeigt nacheinander auf die vier Männer im Zimmer.
    Er, Simón, der vierte Mann, greift ein. »Keine ungezogenen Fragen«, sagt er. »Das war eine ungezogene Frage. Eine Frau macht kein Baby mit ihren Bruder.«
    »Warum nicht?«
    »Sie tut es einfach nicht. Es gibt kein Warum.«
    »Es gibt ein Warum! Ich kann jede Frage stellen, die ich will! So geht das Spiel. Möchtest du, dass Diego dir ein Baby macht, Inés? Oder möchtest du Stefano?«
    Inés zuliebe greift er wieder ein. »Das reicht!«
    Diego steht auf. »Gehen wir«, sagt er.
    »Nein!«, sagt der Junge. »Wahrheit oder Pflicht! Wen magst du am liebsten, Inés?«
    Diego wendet sich an seine Schwester. »Sag was, sag irgendwas.«
    Inés schweigt.
    »Inés möchte gar nichts mit Männern zu tun haben«, sagt Diego. »Da, nun hast du deine Antwort. Sie will keinen von uns. Sie möchte frei sein. Wir wollen jetzt gehen.«
    »Ist das wahr?«, fragt der Junge Inés. »Das ist nicht wahr, oder? Du hast versprochen, ich bekomme einen Bruder.«
    Noch einmal greift er ein. »Jeder nur eine Frage, David. Das ist die Vorschrift. Du hast deine Frage gestellt, und du hast deine Antwort bekommen. Wie Diego sagt, Inés will keinen von uns.«
    »Aber ich will einen Bruder! Ich will nicht der einzige Sohn sein! Das ist langweilig!«
    »Wenn du wirklich einen Bruder willst, geh los und finde selbst einen. Fang mit Fidel an. Nimm Fidel zum Bruder. Brüder müssen nicht alle aus demselben Schoß kommen. Gründe eine eigene Bruderschaft.«
    »Ich weiß nicht, was eine Bruderschaft ist.«
    »Das überrascht mich. Wenn zwei Jungen übereinkommen, sich Brüder zu nennen, dann haben sie eine Bruderschaft gegründet. So einfach ist das. Sie können noch mehr Jungen zusammentrommeln und sie auch zu Brüdern machen. Sie können sich Treue schwören und einen Namen wählen – die Bruderschaft der Sieben Sterne oder die Bruderschaft der Höhle oder etwas Ähnliches. Sogar die Davidsbruderschaft, wenn du willst.«
    »Oder es kann eine Geheimbruderschaft sein«, wirft Daga ein. Seine Augen glitzern, er zeigt ein leichtes Lächeln. Der Junge, der ihm, Simón, kaum zugehört hat, scheint jetzt völlig fasziniert zu sein. »Ihr könnt einen Eid der Verschwiegenheit schwören. Keiner braucht jemals herauszufinden, wer deine geheimen Brüder sind.«
    Er bricht das Schweigen. »Das reicht für heute Abend. David, geh und hole deinen Schlafanzug. Du hast Diego lange genug warten lassen. Denk dir einen guten Namen für deine Bruderschaft aus. Wenn du dann von La Residencia wieder heimkommst, kannst du Fidel einladen, dein erster Bruder zu sein.« Er wendet sich an Inés. »Bist du einverstanden? Erlaubst du es?«

Dreiundzwanzig
    » W o ist El Rey?«
    Der Pferdewagen steht am Kai, leer, auf Ladung wartend, aber El Reys Platz nimmt ein Pferd ein, das sie vorher noch nie gesehen haben, ein schwarzer Wallach mit einer weißen Blesse auf der Stirn. Als der Junge dem neuen Pferd zu nahe kommt, rollt es nervös mit den Augen und bearbeitet mit dem Huf den Boden.
    »He!«, ruft

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