Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)
freundlich von dir. Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich dir mehrfach in der Vergangenheit angeboten, dich zu unterrichten, und bin abgelehnt worden. Wenn du dir von mir das Lesen und Schreiben und Zählen, wie es normal ist, hättest beibringen lassen, hätten wir nicht diese Schwierigkeiten.«
Die Heftigkeit seines Ausbruchs schockiert den Jungen sichtlich – er wirft ihm einen schmerzlich überraschten Blick zu.
»Aber das liegt alles hinter uns«, beeilt er sich hinzuzufügen. »Wir schlagen eine neue Seite auf, du und ich.«
»Warum kann mich Señor León nicht leiden?«
»Weil er zu eingebildet ist«, sagt Inés.
»Señor León kann dich sehr wohl leiden«, sagt er. »Es ist nur, dass er eine ganze Klasse unterrichten muss und keine Zeit hat, dir individuelle Aufmerksamkeit zu schenken. Er erwartet, dass Kinder manchmal allein arbeiten.«
»Ich arbeite nicht gern.«
»Wir müssen alle arbeiten, da ist es besser, du gewöhnst dich daran. Arbeit ist Teil des menschlichen Loses.«
»Ich arbeite nicht gern. Ich spiele gern.«
»Ja, aber du kannst nicht die ganze Zeit spielen. Zeit zum Spielen ist, wenn du deine Arbeit für den Tag erledigt hast. Wenn du morgens in seine Klasse kommst, erwartet Señor León von dir Arbeit. Das ist ganz vernünftig.«
»Señor León gefallen meine Geschichten nicht.«
»Deine Geschichten können ihm gar nicht nicht gefallen, weil er sie nicht lesen kann. Was für Geschichten gefallen ihm denn?«
»Feriengeschichten. Darüber, was man in den Ferien macht. Was sind Ferien?«
»Ferien sind freie Tage, Tage, an denen man nicht zu arbeiten braucht. Du hast für den Rest des Tages frei. Du brauchst nicht mehr zu lernen.«
»Und morgen?«
»Morgen wirst du lernen zu lesen und zu schreiben und zu zählen wie ein normaler Mensch.«
»Ich schreibe einen Brief an die Schule«, sagt er Inés, »und teile ihnen förmlich mit, dass wir David abmelden. Dass wir uns selbst um seine Bildung kümmern werden. Einverstanden?«
»Ja. Und wenn du einmal dabei bist, schreibe auch an diesen Señor León. Frage ihn, was er da tut, kleine Kinder zu unterrichten. Sag ihm, das ist kein Beruf für einen Mann.«
»Sehr geehrter Señor León«, schreibt er,
Vielen Dank, dass Sie uns an Señora Otxoa vermittelt haben.
Señora Otxoa hat vorgeschlagen, dass unser Sohn David an die Sonderschule in Punta Arenas überwiesen wird.
Nach reiflicher Überlegung haben wir uns gegen ein solches Vorgehen entschieden. David ist nach unserer Einschätzung zu jung, um von seinen Eltern getrennt zu leben. Wir bezweifeln auch, dass er die richtige Zuwendung in Punta Arenas bekommen wird. Wir werden daher seine Ausbildung zu Hause fortsetzen. Wir haben berechtigte Hoffnung, dass seine Lernschwierigkeiten bald eine Sache der Vergangenheit sein werden. Er ist, wie Sie einräumen, ein aufgewecktes Kind, das schnell lernt.
Wir danken Ihnen für Ihre Bemühungen um ihn. Wir legen eine Kopie des Briefes bei, den wir an Ihren Schulleiter geschickt haben, in dem wir ihn von der Abmeldung in Kenntnis setzen.
Sie erhalten keine Antwort. Stattdessen kommt mit der Post ein dreiseitiges Formular, das für die Zulassung zu Punta Arenas ausgefüllt werden soll, dazu eine Liste von Kleidungsstücken und persönlichen Dingen (Zahnbürste, Zahnpasta, Kamm), die ein neuer Schüler mitbringen sollte, und eine Buskarte. Das alles ignorieren sie.
Als Nächstes kommt ein Telefonanruf, weder von der Schule noch von Punta Arenas, sondern, soweit Inés feststellen kann, von irgendeiner Verwaltungsbehörde in der Stadt.
»Wir haben uns entschieden, David nicht wieder in die Schule zu schicken«, informiert sie die Frau am Apparat. »Er hat vom Unterricht nicht profitiert. Er wird zu Hause lernen.«
»Ein Kind zu Hause zu unterrichten ist nur gestattet, wenn ein Elternteil ein anerkannter Lehrer ist«, sagt die Frau. »Sind Sie eine anerkannte Lehrerin?«
»Ich bin Davids Mutter, und ich und kein anderer entscheidet, wie er unterrichtet wird«, erwidert Inés und legt auf.
Eine Woche danach kommt ein neuer Brief. Unter der Überschrift »Vorladung vor den Untersuchungsausschuss« weist er die ungenannten »Eltern und/oder Erziehungsberechtigten« an, am 21 . Februar um 9 Uhr vor einem Untersuchungsausschuss zu erscheinen, um den Grund darzulegen, warum das betreffende Kind nicht in das Sonderlernzentrum in Punta Arenas eingewiesen werden sollte.
»Ich weigere mich«, sagt Inés. »Ich weigere mich, vor ihrem Ausschuss zu
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