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Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition)

Titel: Die Kindheit Jesu: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.M. Coetzee
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erscheinen. Ich werde David zu La Residencia bringen und ihn dort behalten. Wenn jemand fragt, wo wir sind, sage, wir sind landeinwärts gereist.«
    »Bitte, überleg dir das noch einmal, Inés. Wenn du das tust, machst du dich zum Flüchtling. Irgendjemand in La Residencia – zum Beispiel dieser übereifrige Pförtner – wird dich an die Behörden verraten. Wir wollen vor diesem Ausschuss erscheinen, du und David und ich. Gib ihnen die Chance zu sehen, dass der Junge keine Hörner hat, dass er bloß ein normaler Sechsjähriger ist, zu jung, um von seiner Mutter getrennt zu werden.«
    »Das ist kein Spiel mehr«, warnt er den Jungen. »Wenn du diese Leute nicht überzeugst, dass du bereit bist zu lernen, dann werden sie dich nach Punta Arenas mit dem Stacheldraht schicken.«
    »Aber ich kann lesen«, sagt der Junge geduldig.
    »Du kannst nur auf deine sinnlose Art lesen. Ich werde dir beibringen, ordentlich zu lesen.«
    Der Junge trottet aus dem Zimmer und kommt mit seinem
Don Quijote
zurück, den er auf der ersten Seite aufschlägt. »An einem Orte der Mancha«, liest er langsam, doch selbstsicher, jedem Wort das ihm zustehende Gewicht gebend, »an dessen Namen ich mich nicht erinnern will, lebte vor nicht langer Zeit ein Junker, der einen hageren Gaul und einen Hund besaß.«
    »Sehr gut. Aber wie soll ich wissen, ob du diese Stelle nicht auswendig gelernt hast?« Er wählt willkürlich eine Seite. »Lies.«
    »Gott weiß, ob es eine Dulcinea in dieser Welt gibt oder nicht«, liest der Junge, »ob sie phatastisch oder nicht phatastisch ist.«
    »Phantastisch. Lies weiter.«
    »Das sind keine Dinge, die bewiesen oder widerlegt werden können. Ich habe sie weder gezeugt noch sie geboren. Was ist gezeugt?«
    »Don Quijote sagt, dass er weder der Vater noch die Mutter von Dulcinea ist. Zeugen ist, was der Vater tut, um das Baby machen zu helfen. Lies weiter.«
    »Ich habe sie weder gezeugt noch sie geboren, doch ich verehre sie, wie man eine Dame verehren sollte, die Tugenden besitzt, für die sie in der ganzen Welt berühmt ist. Was ist verehren?«
    »Verehren ist huldigen. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du lesen kannst?«
    »Ich habe es dir gesagt. Du wolltest es nicht hören.«
    »Du hast so getan, als könntest du es nicht. Kannst du auch schreiben?«
    »Ja.«
    »Hol deinen Bleistift. Schreibe, was ich dir vorlese.«
    »Ich habe keinen Bleistift. Ich habe meine Bleistifte in der Schule gelassen. Du wolltest sie holen. Du hast es versprochen.«
    »Ich habe es nicht vergessen.«
    »Kann ich zu meinem nächsten Geburtstag ein Pferd haben?«
    »Meinst du ein Pferd wie El Rey?«
    »Nein, ein kleines Pferd, das mit mir in meinem Zimmer schlafen kann.«
    »Sei vernünftig, Kind. Man kann kein Pferd in einer Wohnung halten.«
    »Inés hält Bolívar.«
    »Ja, aber ein Pferd ist viel größer als ein Hund.«
    »Ich kann ein Babypferd bekommen.«
    »Ein Babypferd wächst zu einem großen Pferd heran. Ich sag dir was. Wenn du brav bist und Señor León zeigst, dass du in seine Klasse gehörst, besorgen wir dir ein Fahrrad.«
    »Ich möchte kein Fahrrad. Man kann auf dem Fahrrad keine Menschen retten.«
    »Nun, du bekommst kein Pferd, und damit Schluss. Schreib: ›Gott weiß, ob es eine Dulcinea auf dieser Welt gibt oder nicht.‹ Zeig her.«
    Der Junge zeigt ihm sein Schreibheft.
Deos sabe si hay Dulcinea o no en el mundo
, liest er – die Reihe von Wörtern marschiert gleichmäßig von links nach rechts; die Buchstaben haben einen gleichmäßigen Abstand und sind perfekt geformt. »Ich bin beeindruckt«, sagt er. »Eine Kleinigkeit ist anzumerken: auf Spanisch wird Gottes Name
Dios
buchstabiert, nicht
Deos
. Sonst, sehr gut. Erstklassig. Du konntest also die ganze Zeit lesen und schreiben, und du hast deiner Mutter und mir und Señor León nur einen Streich gespielt.«
    »Ich habe keinen Streich gespielt. Wer ist Gott?«
    »
Gott weiß
ist eine Redewendung. Sie drückt aus: niemand weiß es. Du kannst nicht –«
    »Ist Gott niemand?«
    »Wechsle nicht das Thema. Gott ist nicht niemand, aber er wohnt für uns zu weit weg, um uns mit ihm zu unterhalten oder Umgang mit ihm zu haben. Und ob er Notiz von uns nimmt:
Dios sabe
. Was werden wir Señora Otxoa sagen? Was werden wir Señor León sagen? Wie werden wir ihnen erklären, dass du sie veralbert hast, dass du die ganze Zeit lesen und schreiben konntest? Inés, komm her! David hat dir etwas zu zeigen.«
    Er reicht ihr das Übungsheft des Jungen. Sie liest. »Wer ist

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