Die Klassefrau
wo ein gemütliches Kaminfeuer prasselte.
»Hast du vielleicht chinesischen Tee?«, fragte Peter und bedachte sie mit einem freundlichen Lächeln.
»Himmel, wo sind nur meine Manieren geblieben? Ich werde auf der Stelle eine Kanne aufbrühen«, fauchte Mallory, riss ihm die Tüte aus der Hand, warf sie unsanft auf einen kleinen Eichentisch, der zwischen einem grünen Sofa und zwei großen Sesseln stand, und verschwand hinter einer Schwingtür zu ihrer Linken, die vermutlich in die Küche führte.
»Frostig«, murmelte er, »definitiv frostig.«
Aber wenigstens war er drin. Er warf ihren Regenmantel auf einen der Sessel und sah sich neugierig nach irgendwelchen aufschlussreichen Hinweisen auf seine zukünftige Braut im Raum um – und davon gab es mehr als genug. Das Zimmer war nicht nur schön, es strahlte Sinnlichkeit, ja, geradezu Leidenschaftlichkeit aus. Es war, als hätten sämtliche Gefühle, die Mallory vor der Welt verbarg, in ihrem Zuhause Gestalt angenommen. Alle Möbel, sogar der Tisch, waren abgerundet, alles wirkte geradezu verschwenderisch üppig. Das Sofa und die Sessel waren weich gepolstert und mit riesigen, farbigen Kissen ausgestattet. Vor dem Kamin lagen ebenfalls dicke Kissen. Üppige Pflanzen standen überall. An den Wänden hingen Drucke von Watteau, Rubens, Ingres, David, auf denen sich schöne Menschen sämtlichen vorstellbaren körperlichen Genüssen hingaben, ob sie nun auf einer hölzernen Schaukel in die Lüfte schwangen oder sich leidenschaftlich auf einem türkischen Diwan umarmten. Auf dem Kaminsims stand mindestens ein Dutzend gerahmter Fotografien.
Er betrachtete sie aufmerksam. Sie schienen die gesamten einunddreißig Jahre von Mallorys Leben zu umfassen. Mallory war auf mindestens der Hälfte der Fotos zu sehen. Er sah sie als Sechsjährige, die vor Entzücken kreischte, während eine Frau sie mit einem Wasserschlauch abspritzte; dann Mallory als ungefähr Zwölfjährige mit Zahnspange zwischen einem älteren Paar, das sie ganz offensichtlich sehr mochte. Ein Foto zeigte sie auf ihrer Abschlussfeier auf dem College, denn sie trug einen Doktorhut und Talar und hatte ihren Arm um eine sommersprossige Freundin gelegt, während beide für die Kamera posierten. Außerdem erkannte er sie auf ein, zwei weiteren Fotos, während der Rest verschiedene Menschen jeden Alters zeigte, deren Mienen und Körperhaltung von Langeweile bis zu Überheblichkeit reichten.
»Hast du mein Tagebuch gefunden?«, fragte Mallory bissig, als sie zurückkam.
»Ich habe noch nicht danach gesucht.«
Sie stellte ein Tablett auf den Tisch neben die Tüte mit dem Essen, schenkte ihm wortlos eine dampfende Tasse Tee aus der blassgrünen Porzellankanne ein und reichte sie ihm. Dann setzte sie sich auf das Sofa und schenkte sich selbst eine Tasse Tee ein. Schweigend packte sie die Papiertüte aus, stellte die weißen Esskartons neben den Teller, den sie ebenfalls mitgebracht hatte, und schien sich gelassen und zufrieden ihrem Essen zu widmen, ohne ihm auch nur die geringste Beachtung zu schenken.
Amüsiert blies Peter in seinen kochend heißen Tee.
»Der riecht toll«, sagte er.
Keine Antwort.
»Du hast ein sehr schönes Haus.«
Keine Antwort.
»Ich habe daran gedacht, in die Antarktis auszuwandern.«
»Gut!«, sagte Mallory, die sich mit zwei schwarzen Lackstäbchen etwas Reis auf den Teller füllte.
»Als Eiskönigin bist du kaum zu übertreffen.«
»Danke.«
»Wie viele Jahre übst du schon?«
»Jahrzehnte.«
Peter lachte. »Bei mir zieht das nicht. Vergiss nicht, dass ich Polizist bin. Ich habe gelernt, selbst aus dem verstocktesten Verdächtigen noch etwas herauszuholen.«
»Und wie lautet das Verbrechen, das ich begangen haben soll.
»Die Frau einer Reihe außerordentlich beglückender Träume zu sein.«
»Du solltest sie lieber analysieren lassen.«
»Das ist nicht nötig. Ich vertraue meinen Träumen voll und ganz. Wer sind eigentlich diese Leute?«, fragte er und deutete auf die Fotos auf dem Kaminsims.
»Meine ehemalige Familie und Freunde.«
»Ehemalige?«
»Inzwischen sind sie alle tot.«
Peter musterte sie einen Moment. »Aha.« Er betrachtete die Fotos noch einmal. »Deine Eltern?«, fragte er und wies auf ein Paar in den Vierzigern, die eine junge Frau mit rabenschwarzem Haar umarmten, die zwischen ihnen stand.
»Ja.«
»Wer ist die Frau?«
»Meine jüngere Schwester Jenny. Sie starb, als ich neunzehn war. Ein Flugzeugabsturz.«
Peter betrachtete sie erneut nachdenklich.
Weitere Kostenlose Bücher