Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
Vom Netzwerk:
konnte und wußte, sie wären nur Erinnerungen an einen Traum, vermochte ich nicht, ihrem Bann und der Erinnerung an den Traum zu entrinnen. Hände packten mich wie eine Puppe, und während mich so die Buhlinnen von Abaia kosten, wurde ich aus meinem breiten Armlehnstuhl im Gasthaus zu Saltus gehoben; dennoch konnte ich mich für weitere hundert Herzschläge oder so nicht von der See und ihren grünhaarigen Weibern losreißen.
    »Er schläft.«
    »Seine Augen sind offen.«
    Eine dritte Stimme: »Sollen wir das Schwert holen?«
    »Ja – vielleicht gibt es Arbeit dafür.«
    Die Titaninnen verblaßten. Männer in Hirschleder und grobem Wollzeug hielten mich an jeder Seite, und ein weiterer mit narbigem Gesicht drückte die Spitze seines Dolches an meinen Hals. Der Mann zu meiner Rechten hatte mit seiner freien Hand Terminus Est aufgehoben; er war der schwarzbärtige Freiwillige, der beim Aufbrechen des zugemauerten Hauses geholfen hatte.
    »Es kommt jemand.«
    Der Mann mit dem Narbengesicht huschte davon. Knarrend ging die Tür auf, und der schreiende Jonas wurde hereingeschleppt.
    »Das ist dein Herr, nicht wahr? Also keine Bewegung, Freund, und keinen Laut! Wir bringen euch beide um.«
     

 
IX
 
Der Herr des Laubes
     
    Die zwangen uns, mit dem Gesicht zur Wand zu stehen, während sie uns die Hände banden. Danach hängten sie uns den Mantel über die Schultern, um die Fesseln zu verbergen, so daß es aussah, als hätten wir die Hände am Rücken gefaltet, woraufhin sie uns in den Hof des Gasthauses führten›wo ein gewaltiges Baluchitherium mit einer schlichten Reitkanzel aus Eisen und Horn auf dem gewaltigen Rücken von einem Bein aufs andere trat. Der Mann, der mich am linken Arm hielt, streckte sich empor und schlug dem Koloß mit dem Stiel eines Stachelstocks in die Kniekehle, um ihn zum Niederknien zu bewegen; sodann wurden wir auf seinen Rücken getrieben.
    Als Jonas und ich nach Saltus gekommen waren, hatte uns unser Weg durch die Halden des Bergwerks, die hauptsächlich aus Bruchstein und Ziegeln bestanden, geführt. Als ich aufgrund von Agias Brief meinen falschen Gang angetreten hatte, ritt ich durch weitere dieser Aufschüttungen, obschon ich größtenteils durch den in Dorfnähe liegenden Wald mußte. Nun zogen wir durch pfadlose Schuttberge. Dort hatten die Bergleute neben den Bruchsteinen alles abgeladen, was sie aus der begrabenen Vergangenheit gefördert hatten und was ihr Dorf und ihren Stand ansonsten in Verruf gebracht hätte. Alles Widerliche war hier haufenweise aufgetürmt, mindestens zehnmal höher als der hohe Rücken des Baluchitheriums – obszöne Statuen, umgestürzt und zerbröckelt, und menschliche Gebeine, an denen noch gedörrte Fleischfetzen und Haarbüschel klebten. Und darunter zehntausend Männer und Frauen; solche, die in der Hoffnung auf eine persönliche Auferstehung ihren Leichnam auf ewig unvergänglich hatten machen lassen, lagen hier zuhauf wie Betrunkene nach einem ausschweifenden Gelage – ihre kristallenen Särge waren aufgebrochen, ihre Glieder in grotesk verdrehten Stellungen ausgestreckt, ihre Kleider vermodert oder modrig, und ihre Augen starrten blind gen Himmel.
    Zuerst hatten Jonas und ich versucht, unsere Entführer auszufragen, aber sie hatten uns mit Schlägen zum Schweigen gebracht. Nun, da das Baluchitherium durch diese Öde stapfte, schienen sie gelassener, und ich erkundigte mich abermals, wohin sie uns brächten. Der Mann mit dem Narbengesicht erklärte: »In die Wildnis, der Heimat freier Männer und lieblicher Frauen.«
    Ich dachte an Agia und wollte wissen, ob er in ihrem Auftrag handle; lachend schüttelte er den Kopf. »Mein Herr ist Vodalus vom Walde.«
    »Vodalus!«
    »Aha«, sagte er, »du kennst ihn also.« Und er stupste den Schwarzbärtigen, der mit uns in der Kanzel saß. »Höchst zuvorkommend wird Vodalus dich behandeln für dein Anerbieten, einen seiner Diener zu richten.«
    »Ich kenne ihn tatsächlich«, entgegnete ich und wollte dem Mann mit dem Narbengesicht fast schon von meiner Begegnung mit Vodalus erzählen, dem ich im letzten Jahr vor meiner Ernennung zum Lehrlingswart das Leben gerettet hatte. Dann bekam ich jedoch Zweifel, ob Vodalus sich daran erinnerte, und sagte nur, daß ich mich auf gar keinen Fall zur Folterung bereitgefunden hätte, wäre mir bekannt gewesen, daß Barnoch ein Diener von Vodalus sei. Das war natürlich eine Lüge, denn ich hatte es gewußt und hatte meinen Lohn mit der Rechtfertigung angenommen, ich

Weitere Kostenlose Bücher