Die Klaue des Schlichters
Ruinen unserer fernen Vorfahren. Während einige wenige in ihren Fliegern durch die Lüfte eilen, zehntausend Meilen pro Tag, kriechen wir anderen auf dem Boden der Urth und können nicht von Horizont zu Horizont gelangen, ehe der westliche sich hebt und die Sonne verbirgt. Du hast vorhin davon gesprochen, diesen quäkenden Narr von Autarchen schachmatt zu setzen. Stell dir nun einmal zwei Autarchen vor – zwei Großmächte, die um die Herrschaft ringen. Der weiße versucht, alles so zu belassen, wie es ist; der schwarze, den Fuß der Menschheit wieder auf die Straße zur Herrschaft zu setzen. Ich habe ihn zufällig schwarz genannt, aber wohlgemerkt sehen wir bei Nacht die Sterne deutlich; im roten Licht des Tages sind sie fern entrückt und unsichtbar. Welcher dieser beiden Mächte möchtest du nun dienen?«
Der Wind strich durch die Bäume, und mir war, als würden alle an der Tafel still und gespannt Vodalus lauschen und auf meine Antwort warten. »Der schwarzen natürlich«, erwiderte ich.
»Gut! Aber jeder vernünftige Mensch wird verstehen, daß die Wiedereroberung nicht einfach sein kann. Wer keine Veränderung will, bleibt ewig auf seinen Bedenken hocken. Wir müssen alles tun. Wir müssen alles wagen!«
Die anderen hatten wieder zu sprechen und zu essen begonnen. Mit gesenkter Stimme, so daß nur Vodalus mich hören konnte, sagte ich: »Sieur, da ist etwas, was ich Euch noch nicht gesagt habe. Ich wage nicht, es länger zu verbergen, damit Ihr mich nicht für treulos haltet.«
Er war ein besserer Intrigant als ich und wandte sich ab, bevor er antwortete, wobei er sich essend stellte. »Was ist es? Heraus damit!«
»Sieur«, gestand ich, »ich habe ein Relikt, die sogenannte Klaue des Schlichters.«
Er biß in die gebratene Keule eines Vogels, während ich sprach. Ich sah ihn innehalten; er richtete den Blick auf mich, ohne den Kopf zu drehen.
»Wollt Ihr sie sehen, Sieur? Sie ist wunderschön, und ich habe sie im Stiefelschaft.«
»Nein«, flüsterte er. »Ja, vielleicht doch, aber nicht hier … Nein, lieber nicht.«
»Wem soll ich sie denn geben?«
Vodalus kaute und schluckte hinunter. »Ich habe von Freunden in Nessus erfahren, daß sie verschwunden sei. Du also hast sie. Du mußt sie behalten, bis du sie loswerden kannst. Versuche nicht, sie zu verkaufen – man würde sie sofort erkennen! Versteck sie irgendwo! Wirf sie, wenn’s sein muß, in eine Grube!«
»Aber sie ist gewiß sehr wertvoll, Sieur.«
»Sie ist unbezahlbar und damit wertlos. Du und ich, wir sind vernünftige Leute.« Trotz dieser Worte schwang Furcht in seiner Stimme. »Aber das Volk hält sie für heilig, schreibt ihr allerlei Wundertaten zu. Wenn ich sie besäße, gälte ich als Frevler und Feind des Theologumenons. Unsere Herren glaubten, ich wäre zum Verräter geworden. Du mußt mir sagen …«
In diesem Augenblick kam ein Mann, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, zur Tafel gelaufen, und seine Miene verriet, daß er etwas Dringendes zu melden hatte. Vodalus erhob sich und ging mit ihm ein paar Schritte davon, wobei er aussah wie ein stattlicher Schulmeister mit einem Knaben, denn der Bote reichte ihm nur bis zur Schulter.
Ich aß und war der Meinung, er würde bald zurückkehren; aber nachdem er den Boten lange befragt hatte, entfernte er sich mit ihm und verschwand zwischen den dicken Baumstämmen. Auch die anderen erhoben sich nacheinander, bis nur noch die schöne Thea, Jonas und ich und ein anderer Mann übrigblieben. »Du willst dich uns anschließen«, sagte Thea schließlich mit ihrer Säuselstimme, »obwohl du unsere Wege nicht kennst. Benötigst du Geld?«
Während ich noch zögerte, erwiderte Jonas: »So etwas ist stets willkommen, Chatelaine, wie die Mißgeschicke eines älteren Bruders.«
»Ihr sollt von heute an von allem einen Anteil erhalten. Wenn ihr zurückkehrt, wird er euch ausgehändigt. Bis dahin habe ich für jeden von euch einen Säckel für unterwegs.«
»Wir müssen also fort?« fragte ich.
»Hat es nicht so geheißen? Vodalus wird euch beim Nachtessen Weisung erteilen.«
Ich war der Meinung, das soeben eingenommene Mahl wäre das letzte des Tages, und der Gedanke mußte sich in meiner Miene widergespiegelt haben.
»Wir schmausen heut’ nacht, wenn der Mond vom Himmel lacht«, verkündete Thea. »Man wird euch holen.« Dann zitierte sie ein paar Verszeilen:
»Iß am Morgen, das öffnet die Augen,
Iß zu Mittag einen stärkenden Gang,
Iß zu Abend und plaudere lang,
Iß
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