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Die Klaue des Schlichters

Die Klaue des Schlichters

Titel: Die Klaue des Schlichters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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durchtrennen?«
    »Niemals, Sieur!«
    »Das freut mich.« Er nahm eine Platte mit Drosseln, wählte eine aus und legte sie mir auf den Teller. Das war ein Zeichen besonderer Gunst. »Dennoch bin ich ein bißchen erstaunt. Ich hätte gedacht, ein Mann deines Standes sähe uns arme Menschlein wie ein Schlachter das Vieh.«
    »Darüber kann ich nichts sagen, Sieur. Ich bin nicht zum Schlachter herangezogen worden.«
    Vodalus lachte. »Ei, nun bedauere ich fast, daß du bereit bist, mir zu dienen! Hättest du nur beschlossen, mein Gefangener zu bleiben, wir hätten viele köstliche Gespräche führen können, während ich dich – wie beabsichtigt – dazu benutzte, um das Leben des unglücklichen Barnoch zu feilschen. Nun jedoch heißt’s morgen früh aufbrechen. Allerdings glaube ich, für dich eine Aufgabe zu haben, die sich gut mit deinen Neigungen deckt.«
    »Wenn es Eure Aufgabe ist, Sieur, gewiß.«
    »Dich aufs Schafott zu stellen, ist eine Vergeudung.« Er lächelte. »Wir werden bald eine bessere Beschäftigung für dich finden. Aber wenn du mir gut dienen willst, mußt du Bescheid wissen über die Position der Steine auf dem Brett und über das Ziel unseres Spiels. Bezeichnen wir die Seiten als weiß und schwarz, und zu Ehren deiner Tracht – damit du weißt, wo deine Interessen liegen – seien wir die Schwarzen. Bestimmt wurde dir gesagt, wir Schwarzen seien nur Räuber und Verräter. Aber hast du denn eine Ahnung, was wir anstreben?«
    »Den Autarchen schachmatt zu setzen, Sieur?«
    »Das wäre gar nicht schlecht, aber es ist nur ein Schritt und nicht das Endziel. Du kommst aus der Zitadelle – ich habe Kenntnis, wie du siehst, von deinen Reisen und deiner Herkunft –, dieser großen Festung der Vergangenheit, also wirst du Sinn für Geschichte haben. Ist dir nie aufgefallen, daß die Menschheit vor einem Jahrtausend viel reicher und auch glücklicher als jetzt gewesen ist?«
    »Jedermann weiß«, entgegnete ich, »daß wir angesichts dieser famosen früheren Zeiten tief gesunken sind.«
    »Und was gewesen ist, soll wieder werden. Die Menschen der Urth, von Stern zu Stern segelnd, von Galaxis zu Galaxis springend, die Herren der Töchter der Sonne.«
    Die Chatelaine Thea, die Vodalus gelauscht haben mußte, auch wenn sie das mit keiner Regung verriet, blickte an ihm vorbei zu mir und sagte mit lieblicher, säuselnder Stimme: »Weißt du, wie unsere Welt umgetauft worden ist, Folterer? Die Menschen der Dämmerung gingen zum roten Verthandi, der damals Krieg getauft wurde. Und weil sie glaubten, das habe einen schändlichen Beiklang, der andere abhielte, ihnen nachzufolgen, nannten sie ihn auf Präsent um. Das war ein sprachlicher Scherz, denn dasselbe Wort bedeutete Gegenwärtig und Das Geschenk. So jedenfalls hat’s ein Lehrer meiner Schwester und mir erklärt, obschon ich nicht verstehe, wie eine Sprache eine solche Verwirrung aushalten kann.«
    Vodalus hörte mit sichtlicher Ungeduld zu, war aber so höflich und gesittet, ihr nicht ins Wort zu fallen.
    »Andere – die aus eigenen Gründen ein Volk in die innerste bewohnbare Welt schafften – griffen dieses Spiel wieder auf und nannten diese Welt Skuld, die Welt der Zukunft. So wurde die unsrige Urth, die Welt der Vergangenheit.«
    »Ich fürchte, du irrst dich«, versetzte Vodalus. »Ich weiß aus bester Quelle, daß diese unsere Welt schon seit grauester Vorzeit so genannt wird. Allerdings ist dein Fehler so entzückend, daß ich wünschte, du hättest statt meiner recht.«
    Thea lächelte, und Vodalus wandte sich wieder mir zu. »Obwohl sie nicht erklärt, warum unsere Urth so genannt wird, verdeutlicht die Geschichte meiner lieben Chatelaine das Wesentliche, daß nämlich die Menschheit damals auf eigenen Schiffen von Welt zu Welt gereist ist, jede beherrscht und darauf die Städte der Menschen errichtet hat. Das waren die großen Tage unserer Rasse, als unsere Urgroßväter die Herrschaft über das Universum anstrebten.«
    Er hielt inne, und ich sagte, weil er offenbar eine Bemerkung von mir erwartete: »Sieur, verglichen mit jenem Zeitalter, ist unser Wissen sehr gering.«
    »Aha, nun triffst du den Kern der Sache, die du jedoch trotz deines Scharfsinns verkennst. Nein, nicht unser Wissen, sondern unsere Macht ist geschrumpft. Das Wissen hat sich unentwegt weiterentwickelt, aber während die Menschen alles gelernt haben, was zur Herrschaft vonnöten ist, hat die Kraft der Welt nachgelassen. Wir leben jetzt, und nicht ungefährlich, auf den

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