Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
der Tat nicht so besonnen und ruhig agieren können. Seine geschilderte Erinnerungslücke ist aus psychiatrischer Sicht nur als nachträglicher Verdrängungsmechanismus erklärbar.
Ganz auszuschließen sei im Übrigen nicht, merkt Dr. Wiesel noch an, dass Wassilow seine Gedächtnisprobleme nur vortäusche. Für die Frage seiner Schuldfähigkeit sei das aber unerheblich.
Nach den besagten zwei Wochen hat Dr. Wiesel seine Begutachtung von Sascha Wassilow abgeschlossen – und in einem Waldstück nördlich von Berlin machen zwei Spaziergänger eine grausige Entdeckung.
Aus einem Haufen Laub und Ästen am Wegrand schaut eine angefaulte menschliche Hand heraus. Es sieht aus, als würde sie ihnen winken. Die Spaziergänger, ein Ehepaar in seinen Fünfzigern, fassen sich ein Herz und treten näher an den Fundort heran. Mit einem Stock schieben sie die obere Schicht aus Ästen und Blättern beiseite.
Außer der Hand und einem halben Arm ist von der Toten nichts zu sehen. Sie ist in eine gelbe Fangodecke eingewickelt, wie Sascha Wassilow bei seiner Festnahme ausgesagt hat. Die Decke ist fest zusammengeknotet. Das Ehepaar registriert noch, dass es sich um eine Person von zierlicher Gestalt handeln muss, vielleicht sogar um ein Kind. Der Körper liegt auf der Seite, die Beine in Embryonalhaltung an den Leib gezogen.
»War da nicht was mit einem Russen, der in Berlin ein Mädchen ermordet haben soll?«, fällt der weiblichen Hälfte des Ehepaars plötzlich ein.
Glücklicherweise stochern sie nicht weiter im Fundort herum, sondern verständigen umgehend die Polizei.
Noch am selben Tag führen Dr. Lilienthal und ich die Obduktion durch. Die Leiche ist fäulnisverändert, aber weniger stark, als angesichts der milden Frühlingstemperaturen und der Leichenliegezeit von mehr als drei Wochen zu erwarten war. Immerhin ist es mittlerweile Anfang Mai. Doch anscheinend haben die synthetische Fangodecke und der trockene, sandige Untergrund den Fäulnisprozess der jungen Frau verzögert.
Die äußere Besichtigung der Toten ergibt, dass Dunja Kritovna erhebliche Würgeverletzungen im Halsbereich und massive Hiebverletzungen im Gesicht aufweist. Ihre Nase ist zertrümmert, zwei Zähne sind ausgebrochen. Ihr Mund und das rechte Auge sind durch Platzwunden stark lädiert. Infolge der Fäulnis lässt sich die genaue Reihenfolge, in der ihr diese Verletzungen beigebracht wurden, nicht mehr rekonstruieren. Aber Dr. Lilienthal und ich sind uns sofort einig, dass eine massive Kompression des Halses die Todesursache darstellt. Der Täter hat den Hals seines Opfers regelrecht zerquetscht. Wie sich bei der Präparation der Halsweichteile herausstellt, ist das Zungenbein gebrochen, was unsere erste Einschätzung bestätigt.
Dagegen können wir weder Abwehrverletzungen noch Genitalverletzungen feststellen. Daraus folgt keineswegs, dass Dunja Kritovna nicht vergewaltigt wurde. Es zeigt lediglich, dass sie sich nicht gewehrt hat – sei es, weil sie bereits das Bewusstsein verloren hatte, weil sie zu betrunken war, um sich koordiniert zu verteidigen, oder weil sie von dem Angriff völlig überrascht wurde.
Zum Zeitpunkt ihres Todes stand Dunja Kritovna unter Alkoholeinfluss, das hat die polizeiliche Rekonstruktion der Ereignisse in der Tatnacht zweifelsfrei ergeben. Wie stark sie alkoholisiert war, können wir allerdings nicht mehr feststellen. Alkohol wird zwar nach dem Tode nicht mehr abgebaut, da relativ rasch sämtliche Stoffwechselprozesse des Körpers zum Erliegen kommen, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Somit entspricht die bei Verstorbenen festgestellte Blutalkoholkonzentration ihrer Alkoholisierung zum Zeitpunkt des Todes. Doch was den Nachweis der Blutalkoholkonzentration bei fäulnisveränderten Leichen anbelangt, haben wir es mit zwei Problemen zu tun: Erstens ist nach längerer Leichenliegezeit kein Blut mehr vorhanden, das wir analysieren könnten, da es aus den Gefäßen in das Gewebe gesickert ist. Zweitens wird bei Leichenfäulnis durch bakterielle Prozesse Alkohol neu gebildet. Falls also doch noch etwas Blut vorhanden ist, kann der Blutalkoholwert durch diesen Prozess verfälscht sein.
Fest steht jedoch aufgrund unserer Obduktionsbefunde, dass Dunja Kritovna mit großer Heftigkeit gewürgt wurde – nach Einschätzung von Staatsanwalt Rühmann, der bei der Obduktion der jungen Frau zugegen ist, in eindeutiger Tötungsabsicht. Außerdem hat der Täter ihr wuchtig mehrfach seine Fäuste oder einen stumpfen Gegenstand
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