Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Schreibtisch.«
Staatsanwalt Rühmann hebt die Schultern und fährt sich mit der Hand übers Gesicht.
»Wenn er das alles von langer Hand geplant hätte, dann hätte er auch von der Kamera gewusst«, steuert Oberkommissarin Mahlow bei. »Wassilow ist ein intelligenter Bursche, aber emotional kommt er mir irgendwie zurückgeblieben vor. So als wäre er mit seinem Gefühlsleben in der Pubertät steckengeblieben.«
Rühmann und Heitner sehen sie fragend an.
»Für mich erklärt das sein widersprüchliches Verhalten«, fährt Sonja Mahlow fort. »Er hatte sich emotional nicht unter Kontrolle, und um zu vertuschen, was er da angerichtet hat, setzt er anschließend seine ganze Intelligenz ein. Aber als ihn dann Vera Markov, also quasi seine Ersatzmutter, am Telefon zur Rede stellt, da bricht er zusammen und versucht nicht mal mehr, sich herauszureden. Dabei wusste er zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts von dem Überwachungsvideo.«
Staatsanwalt Rühmann will etwas erwidern, aber die Oberkommissarin ist noch nicht fertig.
»›Ich habe etwas sehr Schlimmes gemacht‹«, zitiert sie Wassilow, »so drückt sich kein erwachsener Mann aus – so redet ein zwölfjähriger Junge, der beim Klauen erwischt worden ist!«
»Aber warum gibt er dann nicht alles zu?«, wendet Rühmann ein. »Warum gesteht er die Tötung und behauptet gleichzeitig, sich an nichts zu erinnern?«
»Ganz einfach – weil er sich schämt!«, gibt die Oberkommissarin zurück. »Das sehe ich genauso wie du, Tom«, wendet sie sich an ihren Kollegen. »Ich glaube auch, dass er Dunja Kritovna getötet hat, um die vorherige Vergewaltigung zu verdecken.«
»Sie glauben es, Heitner wettet darauf – und wir haben nach wie vor keinen Beweis«, bringt Rühmann das Dilemma der Ermittler auf den Punkt. »Wir brauchen die Leiche – und dazu möglichst ein Obduktionsergebnis, auf dem ich eine Anklage wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen aufbauen kann!«
»Und wenn die Obduktion keine Anhaltspunkte für ein sexuelles Gewaltdelikt erbringt?«, fragt Tom Heitner. »Was machen wir dann?«
Der Staatsanwalt starrt düster vor sich hin. »Dann bleibt immer noch die Anklage wegen heimtückischen Mordes. So ergibt das Ganze nämlich auch einen Sinn«, erklärt er in Sonja Mahlows Richtung. »Er hatte von vornherein die Absicht, Dunja zu töten. Wenn er stundenlang allein in der Praxis war, hat er seinen Mordplan immer wieder durchgespielt. Vielleicht ging es ihm wirklich nicht einfach um Sex, wie er Ihnen gegenüber ja erklärt hat, und bestimmt ging es ihm nicht um Dunja – er hat einfach auf eine Gelegenheit gelauert, ein argloses Opfer zu töten. Wahrscheinlich aus purer Mordlust! Und Dunja Kritovna hatte schlicht das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.«
Tom Heitner und Sonja Mahlow wechseln einen Blick.
»Wir weiten die Suche nach der Toten nochmals aus«, sagt der Hauptkommissar. »Wir müssen sie finden, solange es für die Rechtsmediziner an ihr noch etwas zu sezieren gibt.«
Zwei weitere Wochen gehen ins Land, doch die Leiche bleibt verschwunden. Zwei Wochen, in denen Wassilow während der Vernehmungen schweigt oder höchstens eintönig wiederholt: »Ich denke ununterbrochen darüber nach, was in jener Nacht passiert ist. Aber ich kann mich einfach nicht erinnern.«
Auch gegenüber Dr. Hubert Wiesel, dem psychiatrischen Sachverständigen, beharrt er auf seiner Gedächtnislücke. Im Übrigen erzählt er ihm bereitwillig, wenn auch wortkarg, von seinem Leben in Russland und später in Berlin. In seiner Kindheit gab es keinen gewalttätigen Vater, keinen pädophilen Onkel oder Nachbarn. Seine Eltern führten eine harmonische Ehe, und Sascha war weder in der Schule noch im Sportverein ein Außenseiter. Wenn er bereits als Junge häufig für sich blieb, dann geschah das aus eigenem Entschluss. Die Gleichaltrigen waren ihm zu laut, zu angeberisch, zu dumm. Als Heranwachsender war er mehrfach in körperliche Auseinandersetzungen verwickelt, aber die verliefen immer harmlos. Tatsächlich ist er bei der Justiz, in Russland genauso wie in Deutschland, ein unbeschriebenes Blatt.
Sascha Wassilow leidet weder an einer dauerhaften krankhaften seelischen Störung noch an einer anderen schweren seelischen Abartigkeit, führt der psychiatrische Sachverständige in seinem Gutachten aus. In der Tatnacht war seine Steuerungsfähigkeit auch weder durch Alkohol noch infolge eines hochgradigen Affektes tiefgreifend gestört. Anderenfalls hätte er nach
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