Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
ins Gesicht geschlagen. Während sie bereits aus mehreren Wunden heftig blutete, schlug er sie weiter so brutal, dass ihr Blut an die Wand des Behandlungsraums Nummer 6, an die Tür zum kleinen Flur und sogar an die 2,40 Meter hohe Zimmerdecke emporspritzte. Ihr rechtes Augenoberlid platzte auf, ebenso ihre Lippen. Das Unterhautfettgewebe ihrer linken Wange löste sich teilweise von den darunterliegenden Gesichtsknochen ab, ihr knöchernes Nasengerüst wurde zertrümmert.
Laut kriminalpolizeilicher Rekonstruktion, die auf der Videoauswertung basiert, dauerte Dunja Kritovnas Martyrium etwa eine Stunde: von 01:35 bis 02:40 Uhr in der Nacht auf den 16. April. Nachdem sie bereits auf dem Boden gehockt oder gekauert hatte, verlor sie erst ihr Bewusstsein, anschließend ihr Gleichgewicht und starb dann infolge der Halskompressionen.
Rund ein halbes Jahr nach der Tat eröffnet die zuständige Große Strafkammer in Berlin das Schwurgerichtsverfahren.
Staatsanwalt Rühmann hat seine Ankündigung wahr gemacht: Sascha Wassilow ist wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen mit dem zusätzlichen Merkmal der Heimtücke angeklagt. Doch das Gericht folgt weder den Vorstellungen der Staatsanwaltschaft noch der Linie der Verteidigung, die auf Totschlag in einem minder schweren Fall plädiert.
Nach vier Verhandlungstagen verkündet der Vorsitzende Richter das Urteil: Sascha Wassilow wird nach § 212 StGB wegen Totschlags verurteilt.
Dabei stützt sich das Gericht – neben dem Geständnis des Angeklagten – hauptsächlich auf das rechtsmedizinische Gutachten, das Dr. Lilienthal und ich am zweiten Verhandlungstag als Sachverständige erläutert haben. Die heftigen Halskompressionen und die brutalen Faustschläge gegen das Gesicht des Opfers beweisen nach Einschätzung des Gerichts, dass der Täter mit unbedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat.
Dagegen sieht das Gericht in Wassilows Vorgehen weder niedrige Beweggründe noch das Mordmerkmal der Heimtücke verwirklicht. »Als niedriger Beweggrund wäre es zu werten gewesen«, führt der Vorsitzende Richter aus, »wenn Sascha Wassilow mit Dunja Kritovna nachweislich intim geworden wäre oder intim werden wollte und verärgert darüber gewesen wäre, dass sie nach Hause wollte.«
Doch das ließ sich dem Angeklagten nicht nachweisen. Die gefundenen Anhaltspunkte – das gemeinsame Tanzen, die unbekleidete Leiche, die Spuren auf der Unterhose des Täters – reichen hierfür nach Einschätzung des Gerichts nicht aus. Vom Totschlag unterscheiden sich Morde, juristisch betrachtet, durch eines oder mehrere der Mordmerkmale, die in § 211 StGB beschrieben sind. Ein solches Merkmal können die viel zitierten »niedrigen Beweggründe« sein – oder auch die »Heimtücke« des Täters.
Wohl deshalb legte der erfahrene Staatsanwalt Rühmann das Hauptgewicht der Anklage auf den Vorwurf der Heimtücke, sobald unser Obduktionsergebnis vorlag. Wassilow habe die arglose junge Frau, die ihm vollkommen vertraute, in eine Falle gelockt und sie noch wehrloser gemacht, indem er sie gezielt unter Alkohol gesetzt habe. Sich selbst habe er nur betrunken gestellt, was seinen heimtückischen Vorsatz unterstreiche. Das alles habe er von langer Hand geplant, weil er die Absicht verfolgt habe, einen Menschen brutal zu ermorden und sich am Sterben seines Opfers zu weiden.
Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt, hält der Vorsitzende Richter in der Urteilsbegründung dagegen. Im vorliegenden Fall weise das Tatgeschehen jedoch deutliche Merkmale einer Spontantat auf. Daher könne dem Angeklagten auch nicht mit der nötigen Gewissheit nachgewiesen werden, dass er sich bewusst war, einen durch seine Arglosigkeit schutzlosen Menschen mit seinem Angriff zu überraschen.
In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten.
Nachdem das Gericht beide von der Staatsanwaltschaft ins Feld geführten Mordmerkmale verneint hat, kann Sascha Wassilow nicht mehr wegen Mordes verurteilt werden. Strafmildernd rechnet ihm das Gericht außerdem an, dass er zum Tatzeitpunkt erst 23 Jahre alt war, ein Geständnis abgelegt und mit der Polizei kooperiert hat. So wird er schließlich wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt.
Bei den meisten Prozessbeteiligten und -beobachtern bleibt wohl der Eindruck zurück, dass Sascha Wassilow nur durch eine Mischung aus Glück und Geschick der – nach
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