Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Meinung vieler – verdienten, weit höheren Strafe entgangen ist. Zumindest aus Laiensicht kann es keinen ernsthaften Zweifel daran geben, dass Dunja Kritovna Opfer eines Sexualmörders wurde.
Doch leider gerät auch die Rechtsmedizin beim Nachweis sexuell motivierter Tötungsdelikte manchmal an ihre Grenzen. Bei der Obduktion eines Gewaltopfers lässt sich oftmals die Grundlage für einen unbedingten Tötungsvorsatz nachweisen, den die Staatsanwaltschaft daraufhin annimmt. Doch sexuelle Motive des Täters und sogar sexuelle Handlungen an einem Opfer, das keine physische Gegenwehr geleistet hat, hinterlassen nicht unbedingt sichtbare Spuren. Und bei fortgeschrittener Leichenfäulnis sind geringfügige Genitalverletzungen so gut wie nicht mehr feststellbar.
Sofern sich Sascha Wassilow im Gefängnis nichts weiter zuschulden kommen lässt, wird er nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Haftstrafe im Jahr 2017 wieder auf freien Fuß kommen – als immer noch junger Mann von 32 Jahren.
Call of Duty
Anfang Januar ist es in Berlin klirrend kalt. Der Wertstoffhof am nordöstlichen Stadtrand liegt seit Tagen unter einer Decke aus Eis und Schnee.
Nadine Gastrow fröstelt, als sie gegen 22:20 Uhr aus der Dusche kommt. Der Umkleide- und Sanitärbereich für Bedienstete der Recyclingfirma ist zugig und schlecht geheizt. Er befindet sich in Halle 3, gegenüber der Haupthalle mit dem gewaltigen Schredder, dessen Dröhnen überall auf dem Gelände zu hören ist. Die junge Frau beeilt sich, ihre warmen Wintersachen anzuziehen. Leggins unter den Jeans, zwei Paar Strümpfe übereinander, die Fleecejacke unter dem weinroten Anorak.
Ein Kollege von Nadine Gastrow sitzt auf dem Gabelstapler und füttert den Schredder mit Müllballen. Als sich ein Rad des Staplers in einer herumliegenden Drahtschlinge verheddert, stellt der Fahrer fluchend den Motor ab. Er greift sich ein Messer mit 30 Zentimeter langer Klinge aus der Ablage neben dem Fahrersitz, springt von seinem Gefährt herunter und versucht mit fahrigen Bewegungen, die Drahtschlinge vom Rad zu lösen. Dabei verletzt er sich mit dem Messer am Ringfinger der rechten Hand und stößt einen zornigen Schrei aus.
Doch von alledem bekommt Nadine Gastrow in der Damenumkleide nichts mit. Selbst wenn sie auf den kleinen Zwischenfall aufmerksam geworden wäre, hätte er sie wohl nicht sonderlich interessiert.
Die 25-Jährige hat eigentlich zu allen Kolleginnen und Kollegen einen guten Draht. Sie ist lebenslustig, achtet auf ihr Aussehen und hat gegen einen kleinen Flirt nichts einzuwenden. Seit zwei Jahren arbeitet sie als Sortiererin von Leichtverpackungen auf dem Wertstoffhof. Aber mit dem 23-jährigen Staplerfahrer, der abwechselnd an der Müllpresse und am Schredder beschäftigt ist, hat sie höchstens ein paar flüchtige Worte gewechselt. Kevin Ferber ist ein scheuer, schmächtiger Bursche, der kaum seinen Mund aufbekommt.
Nachdem Nadine Gastrow auch noch ihre Turnschuhe angezogen hat, geht sie zu ihrem Spind und holt ihren Rucksack heraus. Sie setzt ihre Kopfhörer auf und schaltet den MP3-Player ein. Der neueste Hit von Pink vertreibt ihre Müdigkeit nach acht Stunden Schicht am Sortierband. Sie verspürt wenig Lust, sofort nach Hause zu fahren, in ihre bescheidene Einzimmerwohnung in Berlin-Kaulsdorf.
Schon vorhin während der letzten Pause hat Nadine Gastrow laut überlegt, mit welcher ihrer Freundinnen sie sich noch treffen könnte. Schließlich hat sie heute einen besonderen Grund zum Feiern: Der Schichtleiter Paul Kühnhardt hat ihr mitgeteilt, dass die Geschäftsleitung ihre Bewerbung angenommen hat. Bisher hat sie nur als Aushilfe auf dem Recyclinghof gearbeitet – doch ab 1. Februar soll sie einen unbefristeten Vertrag bekommen.
Das bedeutet mehr Geld, mehr Urlaub und einen besseren Kündigungsschutz. Mit den 800 Euro netto, die sie künftig im Monat verdienen wird, kann sie nach wie vor keine großen Sprünge machen. Aber wie etliche ihrer Kollegen hat Nadine Gastrow keinen Beruf erlernt und kann nicht einmal einen Schulabschluss vorweisen. Außerdem ist sie erst vor zwei Jahren aus einem mecklenburgischen Dorf in die Hauptstadt gezogen. So ist sie über ihre Beförderung zur festangestellten Sortiererin mehr als glücklich.
Seit Kevin Ferber sich mit dem Messer in den rechten Ringfinger geschnitten hat, ist er auf 180. Dieser Tag hat schon so beschissen angefangen – und jetzt auch noch das! Plötzlich durchzuckt ihn der Gedanke: Du musst irgendwen
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