Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Boutique für hochwertige Secondhand-Bekleidung – Nearly Perfect – klingt nur noch wie ein makabrer Kommentar zum Zerstörungswerk des Feuers. Die edle Designerware aus zweiter Hand bietet den Flammen ideale Nahrung. Und das Feuer droht bereits vom Laden auf das restliche Haus überzugreifen.
Der Kommandant des Löscheinsatzes ordnet an, das Mehrfamilienhaus umgehend zu räumen. Feuerwehrmänner in Schutzkleidung und Atemmasken stürmen das Haus und eilen von Tür zu Tür. Insgesamt 23 verängstigte Bewohner, überwiegend Familien mit kleinen Kindern, bringen sie in Sicherheit. Die meisten von ihnen sind noch schlaftrunken und nur notdürftig bekleidet – die mit Sirenengeheul anrückende Feuerwehr hat sie aus dem Schlaf gerissen.
Währenddessen wird die Frau, die kurz vor Ausbruch des Feuers aus dem Laden gestürzt kam, von Polizeiobermeisterin Iris Hartmann befragt. Sie gibt an, dass sie Verena Falk heiße und die Besitzerin der Boutique Nearly Perfect sei. Ein maskierter Mann habe sie überfallen, fast zu Tode stranguliert und dann das Feuer gelegt, wiederholt sie immer wieder. Sie spricht stockend und ist nur schwer zu verstehen. Offenbar hat sie nicht nur eine Rauchgasvergiftung, sondern auch einen Schock. »Verständigen Sie meine Schwester Linda Jobst«, sagt sie schließlich noch.
Die Polizeiobermeisterin wechselt einen Blick mit ihrem Kollegen. »Meinen Sie etwa die Politikerin Linda Jobst, die ehemalige Ministerin?«, vergewissert sie sich.
Verena Falk nickt. »Sagen Sie ihr, was passiert ist«, murmelt sie und starrt mit glasigen Augen durch die Polizistin hindurch.
Der Notarzt schaltet sich ein. »Die Patientin muss sofort ins Krankenhaus.«
Polizeiobermeisterin Hartmann hätte sie gerne noch zurückbehalten, bis die Kollegen von der Kripo vor Ort sind. Aber im Moment ist von der Frau mit der zerfetzten Wäsche unter dem Designermantel sowieso nichts Genaues zu erfahren.
Auch der Zeuge Torsten Pätzold kann nur wenig Sachdienliches beitragen. Er gibt zu Protokoll, dass die Frau aus dem Laden getaumelt und über die Straße zu ihm gekommen sei. Er wiederholt ihre wirren Äußerungen, so gut er sich daran erinnern kann, und bestätigt, dass er mit seinem Mobiltelefon die Polizei alarmiert habe. Dann macht er sich auf die Suche nach seinem Bus. Die Haltestelle, an der er gewöhnlich zusteigt, liegt innerhalb des abgesperrten Areals.
Rettungswagen kommen mit zuckendem Blaulicht an oder fahren mit Sirenengeheul ab, um die Hausbewohner zur Klinik zu bringen. Etliche von ihnen zeigen Symptome einer Rauchgasvergiftung, doch glücklicherweise ist durch die Flammen selbst niemand ernsthaft verletzt worden. Nur die Räume der Boutique und ein ebenfalls im Erdgeschoss gelegener Lagerraum sind ausgebrannt.
Doch das ändert nichts daran, dass sich der Brandstifter zusätzlich wegen 24-fachen versuchten Mordes wird verantworten müssen. Wer auch immer sich hinter der Maske verbergen mag.
Kriminaloberkommissar Tobias Hellmann fährt noch am selben Tag gegen Mittag in die Stadtklinik von Sanden, um Verena Falk zu befragen.
Der zuständige Staatsanwalt Dr. Höppner hat ihm vorher noch eingeschärft, dass sie sich nicht den geringsten Fehler erlauben dürften.
Dem erfahrenen Kriminalbeamten Hellmann ist klar, worauf der Staatsanwalt hinauswill. Zweifellos hat ihm die Landtagsabgeordnete und Ex-Ministerin Linda Jobst gehörig Druck gemacht.
In der Klinik findet er eine blasse, schlanke Frau in einem eleganten bordeauxroten Hausmantel vor. Hellmann setzt sich ihr gegenüber an den Tisch ihres Krankenzimmers und zückt seinen Notizblock.
»Frau Falk, jetzt erzählen Sie mir bitte mal, was heute Morgen genau passiert ist«, fordert er sie auf. »Fangen Sie einfach damit an, wann und wie Sie in Ihr Geschäft gekommen sind.«
Sie sei ausnahmsweise schon um sechs Uhr früh in ihrer Boutique gewesen, beginnt Verena Falk. Um acht sei sie mit einer Mitarbeiterin aus ihrer Steuerkanzlei im Laden verabredet gewesen. »Vorher wollte ich noch staubsaugen und ein paar andere Dinge für den Verkaufsbetrieb erledigen.« Deshalb sei sie gleich nach hinten ins Lager gegangen, um den Staubsauger zu holen. »Und als ich wieder nach vorne kam, stand plötzlich dieser Mann vor mir.«
Wie der Mann ausgesehen habe, fragt Kriminaloberkommissar Hellmann.
Sie zuckt mit den Schultern. »Mittelgroß, glaube ich. Er hatte eine schwarze Strumpfmaske auf. Ich konnte von seinem Gesicht nur die Umrisse sehen. In der Hand hatte er
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