Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
ich fort, »kann die Mutter mit ihm unsere rechtsmedizinische Ambulanz aufsuchen. Sie soll aber vorher einen Termin vereinbaren, damit ich alles koordinieren kann. Ich werde veranlassen, dass ein Kinderarzt und ein Hautarzt anwesend sind, so dass der Junge die Untersuchung nur einmal über sich ergehen lassen muss.«
Die »Löwenmütter« erklärten sich einverstanden. Einige Wochen später rief die Mutter bei uns an und kündigte an, dass sie uns am kommenden Montagvormittag mit ihrem Sohn aufsuchen würde.
Tatsächlich erschien sie mit Daniel zum vereinbarten Termin. Wir untersuchten den Jungen so schonend wie möglich. Dabei kamen der Kinderarzt, der Dermatologe und ich einhellig zu dem Ergebnis, dass Daniel nicht sexuell missbraucht worden war. Seine Analschleimhaut war zwar akut entzündet, eine mechanische Manipulation konnten wir aber sicher ausschließen. Auch wenn die Ursache unklar blieb, fiel mein Gutachten im entscheidenden Punkt eindeutig aus: Sexueller Missbrauch kam hier als Ursache definitiv nicht in Betracht.
Wiederum vergingen etliche Wochen, dann erschien eines Tages Daniels Vater bei uns im Institut. Er erzählte mir, dass ihn die »Löwenmütter« wegen angeblichen sexuellen Missbrauchs seines eigenen Sohnes bei der Polizei angezeigt hätten.
»Sie haben in Ihrem Gutachten doch bescheinigt, Herr Doktor, dass Daniel nicht vergewaltigt worden ist!«, rief er aus. »Oder habe ich das falsch verstanden?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das haben Sie ganz richtig verstanden«, versicherte ich ihm. »Daniel litt zum Zeitpunkt meiner Untersuchung an einer akuten Schleimhautentzündung am Anus, aber die stammt definitiv nicht von sexuellem Missbrauch.«
»Trotzdem haben mich diese Typen angezeigt!«, regte sich der Vater aufs Neue auf. »Bitte helfen Sie mir! Wie kann ich mich gegen diese abwegigen Vorwürfe wehren? Und was kann ich machen, damit Daniel endlich wieder zur Ruhe kommt?«
Nachdenklich schaute ich ihn an. Er wirkte ehrlich erschüttert und wegen des Jungen tief besorgt.
»Auch Ihre Ex-Frau kennt das Gutachten seit Wochen«, antwortete ich. »Was glauben Sie, warum sie und die ›Löwenmütter‹ trotzdem nicht lockerlassen?«
»Das habe ich mich natürlich auch schon gefragt.«
Er unterbrach sich, gab sich dann aber sichtlich einen Ruck.
»Daniels Mutter, meine Ex«, sagte er schließlich, »will vor Gericht durchsetzen, dass ich mehr Unterhalt zahlen muss. Außerdem wäre es ihr wohl am liebsten, wenn mich Daniel nur noch selten sehen darf. Bestimmt steckt sie irgendwie hinter der ganzen Sache!«
»Sie meinen, Ihre Ex-Frau könnte die Veränderungen am Anus Ihres Sohnes herbeigeführt haben, damit man Sie beschuldigt, Daniel missbraucht zu haben?«, brachte ich seine Vermutungen auf den Punkt.
Er sah mich an und zuckte dabei leicht mit den Schultern. Der Verdacht klang in der Tat ungeheuerlich. Aber wenn Elternteile um Ansprüche im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Nachwuchs kämpfen, werfen sie oftmals alle Skrupel über Bord – das hatte mich die berufliche Praxis schon zu Anfang meiner Laufbahn gelehrt.
Wenige Tage später rief mich Daniels Vater im Institut an. »Das Ermittlungsverfahren gegen mich ist eingestellt worden«, berichtete er. »Begründung: Die von den ›Löwenmüttern‹ erhobenen Vorwürfe wurden durch Ihr Gutachten widerlegt.«
Er bedankte sich bei mir, doch er klang nicht besonders erleichtert. Ganz im Gegenteil.
»Diese ›Löwenmütter‹ und meine Ex-Frau geben trotzdem keine Ruhe«, fuhr er fort. »Nach wie vor schleppt Daniels Mutter den Jungen fast jeden Montag, nachdem er bei mir zu Besuch war, zu irgendwelchen Ärzten. Letztes Wochenende, als ich Daniel abholen wollte, haben der Typ mit der Glatze und der andere mich sogar massiv bedroht. Ich sollte den Kontakt mit Daniel abbrechen, haben sie verlangt – sonst würden sie noch ganz andere Saiten aufziehen. ›Du mieser, perverser Drecksack!‹, haben sie mich beschimpft. Und die Typen meinen es ernst! Das habe ich ganz deutlich gespürt. Was soll ich jetzt nur machen, Herr Doktor?«
Er wirkte richtiggehend verzweifelt.
»Gab es irgendwelche Zeugen, als Sie bedroht wurden?«, fragte ich zurück.
Daniels Vater verneinte.
»Dann würde es Ihnen auch nichts bringen, den Spieß umzudrehen und die ›Löwenmütter‹ oder Ihre Ex-Frau anzuzeigen«, überlegte ich laut. »Die Ermittlungen würden genauso ergebnislos eingestellt, und am Ende hätten Sie möglicherweise noch eine Anzeige wegen
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