Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
geschädigt werden, und selbst die Geschichten, die die vermeintlichen Opfer den Ermittlern erzählen, ähneln einander oftmals stark. Doch daneben gibt es immer wieder Fälle, die vom Klischee abweichen – durch ungewöhnliche Verletzungen, die noch keinen Eingang in die rechtsmedizinischen Lehrbücher gefunden haben, oder weil manch ein Zeitgenosse seine Fantasie von den beliebten CSI -Fernsehserien beflügeln lässt …
Stigma in Spiegelschrift
Vor einigen Jahren erschien ein Mädchen im Teenager-Alter auf einer schwedischen Polizeiwache. Ihre Stirn und ihr rechter Arm wiesen oberflächliche Verletzungen auf. Die junge Frau berichtete, dass sie von mehreren ihr unbekannten Männern angegriffen und sexuell missbraucht worden sei. Anschließend hätten die Täter ihr die dünnen, parallel verlaufenden Schnittwunden mit einem Messer in Stirn und Arm geritzt.
Die Schnittwunden auf ihrem Arm ergaben zusammen das Wort HORA. Nicht ganz so leicht ließen sich die Zeichen auf ihrer Stirn entziffern: Sie fügten sich zwar gleichfalls zu dem schwedischen Wort für »Hure« zusammen – aber sie waren spiegelverkehrt eingeritzt.
Die Jugendliche wurde gynäkologisch untersucht, doch es fanden sich keine Anzeichen für sexuelle Übergriffe. Rechtsmediziner begutachteten die Schnitte auf ihrer Stirn und ihrem Arm und stellten fest, dass sie allesamt die typischen Merkmale selbst beigebrachter Verletzungen aufwiesen: Es handelte sich durchweg um oberflächliche, parallel angeordnete Ritzer. Sie alle befanden sich in Körperregionen, die für die dominante (»schnittführende«) Hand leicht erreichbar sind.
Außerdem konnten die schwedischen Rechtsmediziner bei dem vermeintlichen Gewaltopfer keinerlei Abwehrverletzungen feststellen. Die junge Frau wies nicht einmal Kratzer im Bereich der Hände und Unterarme auf. Bei einem Kampf, wie sie ihn den Polizeibeamten geschildert hatte, wären jedoch unweigerlich Abwehrverletzungen entstanden. Auch ihre Kleidung war vollkommen unbeschädigt, selbst am rechten Arm, wo die Täter sie angeblich mit dem Messer verletzt hatten. Dabei hatte sie zum Zeitpunkt des Überfalls eng anliegende langärmlige Oberbekleidung getragen.
Schmerzempfindliche Körperstellen (z.B. Augenlid, Brustwarzen, Genitalien) waren unversehrt, desgleichen wichtige Funktionsbereiche wie Nase oder Ohren – auch das ist typisch für selbst beigebrachte Verletzungen. Schmerzen durch Messerschnitte an der Haut von Bauch, Brust, Oberschenkel oder auch im Gesicht kann man notfalls aushalten. Auf die Idee, sich beispielsweise quer durch die Brustwarze zu schneiden, wird aber so schnell niemand kommen bzw. diesen Plan nach zaghafter Erprobung rasch wieder fallen lassen: Schnitte in dieser hochsensiblen, von endlosen Nervengeflechten versorgten Region sind tausendfach schmerzhafter.
Nicht zuletzt der spiegelverkehrte Schriftzug auf der Stirn der jungen Frau untermauerte den Verdacht, dass sie sich die Schnittwunden selbst zugefügt hatte. Offenbar hatte sie, vor dem Spiegel stehend, ihre Stirn mit dem Messer bearbeitet – und statt HORA stand dort nun AROH.
Doch die oberflächlichen Verletzungen deuten wohl auch in diesem Fall auf eine tiefere, unverheilte Wunde hin – statistisch gesehen am ehesten auf sexuelle Gewalt, die die junge Frau in ihrer Kindheit sehr wahrscheinlich erlebt hat.
Das Kreuz mit dem Haken
Bundesweites Aufsehen erregte im Jahr 1994 der Fall einer damals 17-jährigen Gymnasiastin aus Halle an der Saale. Die junge Frau war seit zwei Jahren aufgrund einer psychosomatischen Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen.
Sie wurde von ihren Eltern zur Polizei gebracht. Auf der linken Wange hatte sie Schnittverletzungen in Form eines Hakenkreuzes. Sie gab an, nach einem Arztbesuch überfallen worden zu sein. Drei Skinheads – zwei junge Männer und ein Mädchen – hätten ihr am Hintereingang des Ärztehauses aufgelauert und mit einem Messer das Hakenkreuz in die Wange gekratzt. Der angebliche Neonazi-Übergriff rief im ganzen Land Empörung und Anteilnahme für das Opfer hervor. Zehntausende gingen auf die Straßen und demonstrierten gegen den menschenverachtenden Anschlag.
Der Generalstaatsanwalt von Sachsen-Anhalt zog den Fall an sich. Eine 18-köpfige Sonderkommission wurde einberufen. Die junge Frau beschrieb die Täter so genau, dass die Polizei mit Phantombildern an die Öffentlichkeit gehen konnte. Hunderte Polizisten verteilten schriftliche Fahndungsaufrufe. Doch schließlich kamen
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