Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
eine weitere Mitarbeiterin der Kinderstation, stimmt ihr zu. »Frau Appelt trägt ihren Jungen in der Klinik herum wie eine Einkaufstasche. Und wenn sie ihn streichelt, dann sieht es aus, als wollte sie eine Decke glattstreichen.« Vor ein paar Tagen habe die Mutter in ihrer Gegenwart auf Leon gezeigt und lachend ausgerufen: »Jetzt hat er schon wieder hohes Fieber! Die finden ja sowieso nicht, was er hat!«
Auch Prof. Hütterer macht sich seine Gedanken über Silke Appelt. Das sogenannte Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom kommt zwar äußerst selten vor, aber das trifft auf das Makrophagen-Aktivierungssyndrom ja genauso zu. Irgendeine Ursache müssen die rätselhaften Symptome des Jungen haben. Und falls diese Ursache weder im Körper des Kranken noch in mangelnder Hygiene liegt, bleibt vielleicht noch eine andere Möglichkeit: dass jemand aus Leons nächster Umgebung die Symptome künstlich hervorruft.
Ende Oktober, knapp acht Wochen nach Leons stationärer Aufnahme in der Kinderklinik, äußert Prof. Hütterer während der Chefarztvisite erstmals diesen Verdacht. Leon liegt apathisch in seinem Bett und scheint kaum wahrzunehmen, dass ihn eine ganze Menschentraube in weißen Kitteln umringt.
»Haben Sie schon mal an Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom gedacht?«, fragt Hütterer in beiläufigem Tonfall und wirft den beiden Oberärzten einen raschen Blick zu. Dr. Beste und Dr. Rupp schauen erschrocken von ihrem Chef zu Silke Appelt. Die Mutter sitzt neben dem Jungen am Bettrand. An ihren sonderbaren Gesichtsausdruck – halb anklagend, halb triumphierend – haben sich weder die Ärzte noch die Schwestern gewöhnen können, obwohl Mutter und Kind nun schon seit fast zwei Monaten hier in der Klinik sind.
»Es war nur so eine Idee«, lenkt der Professor ein. »So etwas ist ja eigentlich kaum vorstellbar.«
Doch später bei der Nachbesprechung kommt er noch einmal auf seinen Verdacht zurück. In seiner früheren Stellung in einer westdeutschen Universitätsklinik hatte er es tatsächlich einmal mit einer Mutter zu tun, deren Kind an dem äußerst seltenen Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt. Sie verabreichte ihrer kleinen Tochter heimlich Giftstoffe und bedrängte anschließend die Ärzte, das Mädchen »auf den Kopf zu stellen«, um dem mysteriösen Leiden auf die Spur zu kommen.
Als sich schließlich herausstellte, dass sie die Krankheit des Kindes künstlich herbeigeführt hatte, und die Ärzte ihr das auf den Kopf zusagten, brach sie zusammen. Unter Tränen beteuerte sie, ihr selbst sei es unbegreiflich, wie sie ihrer Tochter etwas so Grausames antun konnte. Das Mädchen erholte sich rasch, nachdem es von seiner Mutter getrennt worden war. Die kleine Patientin, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt, war zwar körperlich erkrankt; ihre Mutter aber war psychisch krank – und ließ deshalb ihr Kind leiden.
Der damalige Fall, führt Prof. Hütterer weiter aus, sei schon bizarr genug gewesen. Aber eine Mutter, die ihr bereits schwerstkrankes Kind mit Darmbakterien vergiftet – nein, so etwas sei doch jenseits des Vorstellbaren. Seine beiden Oberärzte stimmen ihm zu.
Ohnehin haben sie nichts in der Hand, was einen so ungeheuren Verdacht gegen Silke Appelt stützen könnte. Die Mutter verhält sich sonderbar, zweifellos, aber auf ihre wenig einfühlsame Art ist sie für den Jungen doch seit Wochen praktisch ununterbrochen da. Manch einer der kleinen Patienten auf Station 15C wäre froh, wenn er wenigstens ab und zu einmal von seinen Angehörigen Besuch bekäme. So gesehen, verhalten sich Leons Eltern und vor allem die Mutter geradezu mustergültig. Außerdem verfügt die Klinik weder über das nötige Personal noch über die technischen Möglichkeiten, um das Geschehen im Krankenzimmer lückenlos zu überwachen. Ganz abgesehen davon, dass so eine Observation rechtlich gar nicht zulässig wäre.
Also leitet der Chefarzt keine Maßnahmen ein, um die Mutter von Leon fernzuhalten. Sonderlich wohl ist ihm dabei allerdings nicht.
Gut eine Woche später wird Leon wieder auf die Intensivstation verlegt. Der Hickman-Katheter muss erneuert werden, außerdem soll das bedauernswerte Kind eine weitere Darmspiegelung über sich ergehen lassen. Die Ärzte hoffen immer noch, dass die in fast schon regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Blutvergiftungen auf eine bisher nicht entdeckte Perforation der Darmwand des Kindes zurückzuführen sind. Wenn es ihnen nur endlich gelänge, diesen Defekt
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