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Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)

Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)

Titel: Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Mediziner setzen der Kriminaloberkommissarin in laienverständlichen Worten auseinander, was es mit dieser bizarren und für die kindlichen Opfer oftmals lebensgefährlichen Erkrankung auf sich hat.
    Im angloamerikanischen Sprachraum spricht man vom Münchhausen-by-proxy-Syndrom. Der Name leitet sich vom Münchhausen-Syndrom ab. Bei diesem manipulieren Personen ihren eigenen Körper, um eine Erkrankung vorzutäuschen und die Aufmerksamkeit von Ärzten und anderen Helfern auf sich zu lenken. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom dagegen handelt es sich um Elternteile – fast ausnahmslos die Mütter der betroffenen Kinder –, die den Gesundheitszustand ihres Kindes beeinträchtigen. Das Kind muss hier also als »Stellvertreter« der Mutter eine künstlich herbeigeführte Erkrankung auf sich nehmen, damit die Mutter in den Genuss ärztlicher Aufmerksamkeit und Zuwendung kommt. Definitionsgemäß leidet das betroffene Kind am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom; die Bezugsperson, die Mutter, leidet an einer psychischen Störung, die unterschiedlichster Art sein kann.
    Die Mutter ruft – meist durch Giftstoffe – eine Erkrankung des Kindes künstlich hervor. Ein ums andere Mal führt sie ihr Kind dann Ärzten vor und verlangt aufwendige Untersuchungen, die für das Kind meist belastend und schmerzhaft sind. Auf Befragen verneint sie beharrlich, die Ursache der Beschwerden zu kennen. Werden Mutter und Kind getrennt, erholt sich das Kind meist rasch wieder.
    Wenn man die zentralen Merkmale so zusammenfasst, führt Dr. Beste weiter aus, scheint es nicht besonders schwierig, dieses Syndrom zu diagnostizieren. Aber zum einen tritt das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom extrem selten auf – nur wenige Ärzte verfügen daher über die nötige Erfahrung, um die Symptome zu erkennen. Und zum Zweiten ist es für medizinisches Fachpersonal, das sich ja aus persönlicher Überzeugung der Hilfe für Kranke und Leidende verpflichtet hat, kaum vorstellbar, dass eine Mutter ihrem eigenen Kind absichtlich Schmerzen und Leid zufügt.
    Trotzdem lassen sich sowohl beim Kind als auch bei der Mutter einige charakteristische Merkmale unterscheiden, referiert Dr. Rupp weiter. Entsprechend geschulte Ärzte können anhand dieser Punkte überprüfen, ob sie möglicherweise einen Fall von Münchhausen-Stellvertreter vor sich haben. Er zählt die wichtigsten Merkmale kurz auf:
    Die Mutter fällt meist dadurch auf, dass sie ihrem Kind in der Klinik nicht von der Seite weicht. Scheinbar opfert sie sich für das Kind auf – aber selbst bei lebensbedrohlichen Krisen des Kindes bleibt sie gelassen oder sogar unbeteiligt.
    Beim Kind treten typischerweise Symptome auf, die trotz gründlicher Untersuchung unerklärlich bleiben. Das Symptombild scheint zu keiner bekannten oder höchstens zu einer extrem seltenen Erkrankung zu passen. Bewährte Therapien bleiben wirkungslos. Und die Symptome treten bei dem Kind stets in zeitlicher Verknüpfung mit der Anwesenheit der Mutter auf. Was die Mutter über die Vorgeschichte der Krankheit ihres Kindes berichtet, passt überdies nicht zu den Untersuchungs- und Laborbefunden. Bei beharrlicher Nachfrage stellt der Arzt in der Regel fest, dass die Mutter zur vorherigen Behandlung des Kindes falsche oder unvollständige Angaben macht. Allerdings sind Mütter mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom nicht selten medizinisch ausgebildet, so dass ihre erfundenen Berichte zunächst plausibel klingen.
    Schließlich haben die beiden Oberärzte ihre Ausführungen beendet und die Strafanzeige gegen Silke Appelt unterschrieben. »Und ich dachte immer«, sagt Kriminaloberkommissarin Drillich zum Abschied, »ich hätte schon das ganze Spektrum an Delikten gegen Schutzbefohlene miterlebt. Mütter, die ihren Kindern Bisswunden zufügen oder sie mit kochend heißem Wasser verbrühen. Väter, die ihren Nachwuchs mit brennenden Zigaretten foltern oder vom Balkon werfen. Aber eine Mutter, die ihrem kleinen Sohn ihre eigene Scheiße ins Blut spritzt – so etwas habe auch ich noch nicht erlebt.«
    Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom werden Kinder nicht aus Grausamkeit misshandelt. Letztlich geht es ihren Peinigern nur darum, sich bei medizinischen Helfern wichtigzumachen, deren Aufmerksamkeit zu gewinnen und während der »Erkrankung« des Kindes Lob und Zuspruch für ihre vermeintliche Selbstaufopferung zu erfahren. Doch wenn man ihnen nicht rechtzeitig auf die Spur kommt, opfern sie stattdessen ihren

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