Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
kleinen Leon sind aufgrund der zierlichen Konstitution des Jungen viel zu fein und reißen bei den Versuchen, sie zu punktieren, immer wieder ein. Daher legt ihm Prof. Hütterer einen sogenannten Hickman-Katheter, einen venösen Zugang am Hals, um den Jungen auf diesem Weg mit den notwendigen Infusionen – Medikamente und Flüssigkeit – zu versorgen. Auf die Idee, dass Leons Mutter oder Vater irgendeine Schuld an dem erbarmungswürdigen Zustand ihres Kindes treffen könnte, kommen zu diesem Zeitpunkt weder die Kinderärztin Dr. Ranke noch ihre Kollegen in der Klinik.
Die Kinderärztin kennt Silke und Ingo Appelt als verantwortungsbewusste Eltern. Die Mutter ist Ende zwanzig, der Vater Mitte dreißig. Die Appelts leben in einfachen, aber anscheinend geordneten Verhältnissen. Beide Elternteile beziehen Frührente und sind nicht berufstätig. So können sie sich ganz der Betreuung ihres gemeinsamen Kindes widmen.
Leon war einige Wochen zu früh geboren worden, hatte sich aber in seinem ersten Lebensjahr gut entwickelt. Zu den routinemäßigen Vorsorgeuntersuchungen erschienen die Eltern immer pünktlich. Auch als Dr. Ranke zusätzliche Untersuchungen anordnete, um die Ursache der Entwicklungsstörung zu ergründen, kooperierten Silke und Ingo Appelt und wirkten aufrichtig besorgt.
Bei einer Gelegenheit jedoch reagierte Silke Appelt seltsam unangemessen. Anfang August 2007 eröffnete ihr die Kinderärztin so schonend wie möglich, dass die verzögerte Entwicklung des Jungen auf eine geistige Behinderung hindeuten könnte – und die Mutter ging mit einem Achselzucken darüber hinweg.
Aber an diesen irritierenden Moment erinnert sich Dr. Ranke erst viel später wieder. Als es für Leon fast schon zu spät ist.
Auch Monika Erbst, die zuständige Stationsschwester auf der Kinderstation, findet Silke Appelts Benehmen irritierend. Im Rahmen des »Rooming-in«-Programms können Elternteile Tag und Nacht bei ihren Kindern in der Klinik bleiben. Auf diese Weise wird den kleinen Patienten zumindest der zusätzliche Schock der Trennung von ihrer wichtigsten Bezugsperson erspart – wenn sie schon aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden und schmerzhafte Untersuchungsprozeduren erdulden müssen. Silke Appelt macht von dieser Möglichkeit auch eifrig Gebrauch: Sie weicht nicht von der Seite ihres Sohns und besteht sogar darauf, in demselben Bett wie Leon zu schlafen. Aber gleichzeitig kommt sie der erfahrenen Stationsschwester emotional erstaunlich unbeteiligt vor.
Am 6. Oktober, rund sechs Wochen nach seiner stationären Aufnahme, bekommt der ohnehin geschwächte Leon plötzlich hohes Fieber. Der kleine Junge muss sich erbrechen und hat offensichtlich heftige Schmerzen. Als das Fieber über 40 Grad Celsius ansteigt, wird er eilends auf die Intensivstation gebracht. Hier stellen die Ärzte fest, dass er an einem septischen Schock leidet, der schwersten Form einer bakteriellen Blutvergiftung. Der kleine Leon schwebt zeitweise in Lebensgefahr. Sein Blut ist mit Darmkeimen überschwemmt, deren Herkunft für die Mediziner vollkommen rätselhaft ist.
Auf der Intensivstation bessert sich sein Gesundheitszustand rasch, doch in den folgenden vier Wochen fiebert der Junge erneut. Er wird auf die Kinderstation zurückverlegt und muss dort weitere belastende und schmerzhafte Untersuchungen über sich ergehen lassen. Leon bekommt Antibiotika und zeitweise auch Cortison. Die Haare fallen ihm aus. Innerhalb von vier Wochen wird sein Blut fünfzehnmal im Labor analysiert – und fast jedes Mal finden sich andere Darmkeime in den untersuchten Proben.
Die Ärzte stehen nicht nur vor einem medizinischen Rätsel, sie sind zudem hochgradig beunruhigt: Darmbakterien sind extrem infektiös und daher außerhalb des Verdauungstrakts schon in geringen Mengen tödlich. Wie ist es überhaupt möglich, dass Leons Blut trotz medikamentöser Behandlung Darmkeime enthält? Und wie kann es sein, dass das Keimspektrum in den Blutproben alle paar Tage wechselt?
Grundsätzlich kommen drei Erklärungen in Frage: Blutkrebs, mangelnde Hygiene in der Klinik oder ein Defekt der Darmwand, durch den die Keime in die Blutbahn gelangt sein könnten. Dass Leon an Blutkrebs erkrankt ist, kann schon nach kurzer Zeit durch Blutuntersuchungen ausgeschlossen werden. Prof. Hütterer veranlasst eine Überprüfung der hygienischen Bedingungen in seiner Klinik. Es werden sogar Wasserproben aus dem Waschbecken in Leons Krankenzimmer untersucht. Das
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