Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Ergebnis ist, wie erwartet, negativ: Gerade auf dieser Station mit ihren immungeschwächten kleinen Patienten werden die Hygienevorschriften besonders streng überwacht und umgesetzt. Im Übrigen weist kein einziges Kind auf der Station ähnliche Symptome wie Leon auf.
So bleibt nach Einschätzung der Mediziner von den drei möglichen Ursachen nur noch eine übrig: Die Keime müssen durch die Darmwand des Jungen in sein Blut gelangt sein. Das geschwächte Kind muss nun auch noch mehrere Darmspiegelungen über sich ergehen lassen. Doch auch diese schmerzhaften Untersuchungen erbringen keinen Befund. Die Darmwand des Jungen scheint intakt. Gleichwohl fördert jede neue Blutuntersuchung weitere – und fast jedes Mal andere – Spuren von Darmflora zutage. So etwas hat selbst der erfahrene Mediziner Prof. Hütterer noch nicht erlebt. Allem Anschein nach leidet der Junge an einer äußerst seltenen Erkrankung.
Mit Oberarzt Dr. Rupp und dessen Kollegin Dr. Beste diskutiert er die Möglichkeit, dass Leon an dem Makrophagen-Aktivierungssyndrom oder einer noch selteneren Unterform dieses Syndroms leiden könnte – einer Autoimmunerkrankung, die mit Fieber und anderen Symptomen hochgradiger Entzündung einhergeht. Mit Hilfe einer auswärtigen Spezialistin stellen sie weitere aufwendige Untersuchungen an. Doch auch diese Spur führt ins Leere – die Ärzte finden keine Ursache für Leons immer lebensbedrohlicheres Fieber.
Nach einem erneuten schweren Fieberschub fällt Leon am 15. Oktober ins Koma und wird abermals auf die Intensivstation verlegt. Dort klingt die Entzündung überraschend schnell ab, und das Fieber sinkt. Das wiederholt sich in den folgenden Wochen noch zweimal: Nach kurzer Zeit kann der Junge jeweils zu seiner Mutter ins Krankenzimmer zurückkehren.
Leons Allgemeinzustand wird jedoch immer schlechter. An Tagen mit besonders hohem Fieber ähnelt er fast schon einem Sterbenden. Seine Hautfarbe ist grau, er wirkt apathisch. Sein Gesicht und sein Bauch sind unnatürlich aufgedunsen. Und die Ärzte um Prof. Hütterer finden nach wie vor keine Erklärung – vor allem aber keine wirksame Therapie.
Das Verhalten der Mutter irritiert mittlerweile nicht mehr nur Stationsschwester Monika Erbst. Auch die Oberärzte Dr. Beste und Dr. Rupp sind davon zunehmend befremdet. Silke Appelt wehrt sich jedes Mal vehement, wenn ihr Kind auf die Intensivstation verlegt werden soll. »Nix da, Schatzi, sterben kann er auch zu Hause!«, faucht sie einmal ihren Mann Ingo an, als der sie davon zu überzeugen versucht, dass Leon auf die Intensivstation gehört. Erst als Dr. Beste ihr androht, das Jugendamt einzuschalten, gibt Silke Appelt ihren Widerstand auf.
So wie Stationsschwester Monika gewinnen auch die beiden Oberärzte den Eindruck, dass der Mutter das Leiden ihres Sohnes nicht sonderlich nahegeht. »Mir kommt es fast so vor«, sagt Dr. Rupp einmal zu seiner Kollegin, »als ob sie den Trubel genießt, den wir hier veranstalten, um Leons Leben zu retten.« Dabei haben die Ärzte den Eltern mehrfach eindringlich erklärt, wie es um Leon steht: Ihr Kind schwebt in Lebensgefahr, und seine Aussichten sind alles andere als gut.
Leons Vater Ingo wirkt zunehmend besorgt, doch Silke Appelt reagiert nach wie vor seltsam unangemessen. »Dann können wir den Urlaub nächste Woche wohl vergessen!«, ruft sie theatralisch aus, als Leon ein weiteres Mal auf die Intensivstation verlegt werden muss.
Die Oberärztin schreckt regelrecht zusammen, als sie diesen Kommentar der Mutter hört. »Ich will kein Wort mehr von anstehenden Urlauben hören! Ihr Junge könnte jeden Tag sterben, ist Ihnen das denn immer noch nicht bewusst?«, fährt sie Silke Appelt an und wendet sich erneut dem komatösen Leon zu.
Später erzählt Dr. Beste ihrem Kollegen von diesem gespenstischen Vorfall. Die beiden Oberärzte fragen sich, ob sich Frau Appelt aus Selbstschutz derart verschließt oder ob das Schicksal ihres Kindes ihr wirklich so wenig bedeutet. Was ja eigentlich kaum vorstellbar ist – schließlich verbringt sie seit Wochen praktisch jede Minute an und sogar in Leons Krankenbett. Immer wieder treibt sie die Ärzte an, weitere Untersuchungen anzustellen.
»Sie müssten einmal sehen, wie sie sich benimmt, wenn sie sich unbeobachtet glaubt«, sagt Monika Erbst zu Dr. Rupp und Dr. Beste. »Dann behandelt sie den Kleinen wie einen Gegenstand, der gar nicht zu ihr gehört. Die Frau verhält sich wirklich sonderbar.«
Schwester Iris,
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