Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
»Stellvertreter« – ein in der Mehrzahl der Fälle nicht einmal zweijähriges Kind.
Noch am selben Tag leitet Oberkommissarin Drillich Ermittlungen gegen Silke Appelt ein. Beide Elternteile werden befragt, und rasch zeigt sich, dass der Vater von den Machenschaften seiner Frau nicht das Geringste wusste. Silke Appelt dagegen verwickelt sich in Widersprüche.
Zunächst wird sie nur der Misshandlung ihres Sohns verdächtigt. Doch die Oberkommissarin weist ihre Mitarbeiter an, auch nach Anhaltspunkten für versuchte vorsätzliche Tötung zu suchen.
Auch die Einwegspritzen aus der Waschtasche von Silke Appelt werden noch am selben Tag mikrobiologisch und molekulargenetisch untersucht. Zwei Tage später liegt das Ergebnis vor: Die Bakterien in der bräunlichen Substanz, die in einer der Spritzen gefunden wurde, stimmen mit Keimarten überein, die auch mehrfach in Leons Blut nachgewiesen wurden.
Daraufhin erwirkt der zuständige Staatsanwalt einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung der Familie Appelt in einem Wohnblock in Berlin-Reinickendorf. Im Badezimmerschrank finden die Ermittler eine Einwegspritze vom gleichen Fabrikat wie die Spritzen, die in Silke Appelts Waschtasche entdeckt wurden.
Damit erhärtet sich der Verdacht gegen die Kindsmutter, auch wenn die Tat nach wie vor kaum vorstellbar erscheint: Allem Anschein nach hat Silke Appelt ihrem kleinen Sohn ihre eigenen Fäkalien über den Hickman-Katheter an seinem Hals in die Blutbahn injiziert.
Es fragt sich nur, ob Frau Appelt vorhatte, den Jungen zu töten, überlegt Sabine Drillich. Das Team, das die Wohnung der Appelts durchsucht hatte, berichtete ihr von befremdlichen Beteuerungen der Kindsmutter. »Sehen Sie meinen Mann und mich doch an!«, forderte Silke Appelt die Beamten auf. »Wir sind beide schwer krank und können kein krankes Kind gebrauchen.«
War das schon so etwas wie ein Geständnis?, fragt sich Sabine Drillich. Zeigt die Äußerung, dass das Geschehene Silke Appelt belastet?
Die Oberkommissarin fährt zur Klinik und befragt Prof. Hütterer als Zeugen. Der Chefarzt bestätigt zunächst die Darstellung seiner beiden Oberärzte, die die Strafanzeige gegen Silke Appelt erstattet haben.
»Wir haben den Jungen wochenlang im wahrsten Sinne auf Herz und Nieren untersucht«, erklärt der Chefarzt. »Er musste wahre Torturen über sich ergehen lassen – Darmspiegelungen, Knochenmarkspunktion, das ganze Programm. Aber wir konnten keine endogene Ursache für die wiederholte Blutvergiftung mit Darmbakterien und die dadurch ausgelösten Fieberschübe finden.«
»War der Mutter Ihrer Ansicht nach bewusst«, fragt die Kriminalbeamtin, »dass sie ihr Kind in Lebensgefahr brachte?«
»Bei seinem Zustand hätte jeder einzelne Darmkeim in der Blutbahn ausgereicht, um den Jungen zu töten«, antwortet Prof. Hütterer. »Ich habe Frau Appelt mehrfach erklärt, dass eine solche Blutvergiftung unmittelbar lebensbedrohlich ist.«
»Also wusste sie, dass sie Leon möglicherweise töten würde?«, hakt die Oberkommissarin nach.
Prof. Hütterer schaut sie ernst an und nickt. »In den zurückliegenden Wochen«, sagt er, »war der Gesundheitszustand des kleinen Leon mehrfach so kritisch, dass an den Tod des Jungen zu denken war. Frau Appelt war sich des schwerwiegenden Krankheitsbildes ihres Sohnes sehr wohl bewusst.«
»Und wie geht es dem Kleinen jetzt?«, will die Ermittlerin noch wissen, bevor sie sich von dem Chefarzt verabschiedet.
Das Gesicht des Mediziners hellt sich auf. »Perfekt«, antwortet er. »Seit die Kindsmutter keinen Kontakt mehr zu ihm hat, ist der Zustand des Jungen stabil.«
Allerdings gehen noch fast zwei Monate ins Land, bis Leon aus der Klinik entlassen werden kann.
Prof. Hütterer lässt den Hickman-Katheter labortechnisch untersuchen und informiert Sabine Drillich über das Ergebnis, das niemanden mehr überrascht: An der Katheterspitze fanden sich Bakterien eines Keimstamms, der bis Anfang November 2007 mehrfach auch im Blut des Jungen nachgewiesen worden war. Und danach – seit das Kontaktverbot zwischen Mutter und Kind verhängt wurde – kein einziges Mal mehr.
Nach fast viermonatigem Klinikaufenthalt wird Leon entlassen. Unterdessen hat das Familiengericht beiden Elternteilen das Sorgerecht entzogen. So kommt Leon vorübergehend in die Obhut einer Pflegefamilie. Mittlerweile ist er zwanzig Monate alt. Aus dem apathischen Kind mit der grauen Gesichtsfarbe ist ein lebhafter kleiner Junge geworden, der allerdings
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