Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
aufzuspüren und zu beheben, wäre der Junge gerettet. Doch die Zeit läuft ihnen davon. Leon wird von Tag zu Tag schwächer.
Seine erneute Verlegung auf die Intensivstation bringt tatsächlich den entscheidenden Erkenntnisfortschritt und letztlich die Rettung des Jungen – aber auf ganz andere Weise als von den Ärzten erwartet.
Während Leon auf der Intensivstation betreut wird, nutzt Schwester Iris auf Station 15C die Gelegenheit, um sein Krankenzimmer zu reinigen. Silke Appelt ist gleichfalls abwesend, und so kann Schwester Iris in aller Ruhe hantieren. Auf dem Fußboden in einer Ecke entdeckt sie eine offene Waschtasche. Sie wirft einen Blick hinein und bemerkt zwei Einwegspritzen. Als sie diese herausnimmt, fällt ihr auf, dass sich in einer der Spritzen Reste einer bräunlichen Substanz befinden. Schwester Iris riecht daran – es handelt sich eindeutig um Kot.
Sofort alarmiert sie ihre Vorgesetzte Monika Erbst. Die Stationsschwester begutachtet ihrerseits die Waschtasche samt Inhalt, und auch ihr wird die Brisanz des Fundes auf der Stelle klar. Umgehend informiert sie Prof. Hütterer. Der Chefarzt lässt den Inhalt der Spritzen im klinikeigenen mikrobiologischen Labor untersuchen. Der Chef der Mikrobiologie selbst, Dr. Walter Hartmann, analysiert die bräunliche Substanz in der einen Spritze – und weist darin unter anderem Darmbakterien nach.
Zwei Tage nach dem makabren Fund konfrontiert Prof. Hütterer Silke und Ingo Appelt mit ihrer Entdeckung. Trotz seiner großen medizinischen Erfahrung ist der Chefarzt erschüttert. Auch wenn ihm ein solcher Verdacht kurz in den Sinn gekommen war – wer hätte sich denn ernstlich vorstellen können, dass eine Mutter ihrem eigenen Kind etwas Derartiges antut?
Bei dem Gespräch sind auch die Oberärzte Dr. Beste und Dr. Rupp sowie der Chefmikrobiologe Dr. Hartmann anwesend. Prof. Hütterer erklärt den Eltern, allem Anschein nach habe jemand von außen Darmkeime in Leons Blut injiziert. Dabei äußert er keinen konkreten Verdacht, sondern schaut die Eltern nur fragend an.
Doch Silke Appelt ist sofort klar, dass sie verdächtigt wird. »Unverschämtheit!«, ruft sie aus und stürzt aus dem Zimmer. Unfähige Stümper seien die Ärzte in dieser Klinik, schreit sie. Und jetzt auch noch solche haltlosen Beschuldigungen – das sei zu viel! »Komm, Schatzi!«, treibt sie ihren vollkommen verdatterten Mann an. »Wir holen Leon und nehmen ihn mit nach Hause!«
Sie rennt zum Zimmer von Leon, der mittlerweile wieder auf Station 15C ist. Doch als sie den Raum betreten will, stellt sich ihr ein kräftig gebauter Pfleger in den Weg. Prof. Hütterer hat vorsorglich eine Sitzwache vor Leons Tür angeordnet, bevor er das Elternpaar mit seinem Verdacht konfrontiert hat.
Noch während Silke und Ingo Appelt auf dem Weg zur Kinderstation sind, informieren die Ärzte das Jugendamt und die Polizei. Um den Jungen vor weiteren Übergriffen zu schützen, untersagt das Jugendamt Berlin-Reinickendorf noch am selben Tag beiden Elternteilen bis auf weiteres jeden Kontakt zu ihrem Sohn. Immerhin lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließen, dass auch Ingo Appelt zumindest als Mitwisser in die Sache verstrickt ist. Allerdings ist sich Prof. Hütterer ziemlich sicher, dass der Vater keine Ahnung hatte. Beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom verheimlichen die Betreffenden ihr Handeln mit großem Geschick vor ihrer Umgebung – und bis zu einem gewissen Grad auch vor sich selbst.
Kriminaloberkommissarin Sabine Drillich ist eine erfahrene Ermittlerin. Sie gehört der Abteilung »Delikte gegen Schutzbefohlene« des Berliner Landeskriminalamtes an und ist auf die Verfolgung von Kindesmissbrauchs- und Kindesmisshandlungsdelikten spezialisiert. Doch auch sie kann ihr Entsetzen nicht ganz verbergen, als sie die Strafanzeige der beiden Oberärzte Dr. Rupp und Dr. Beste aufnimmt.
»Sie verdächtigen also die Kindsmutter«, vergewissert sie sich, »ihrem Sohn über den venösen Zugang am Hals Darmbakterien injiziert zu haben?«
Die Oberärzte bestätigen das. »Wir nehmen an, dass sie ihren eigenen Kot in den Einwegspritzen aufgezogen hat, die in der Waschtasche gefunden wurden«, erklärt Dr. Rupp.
Die Fieberschübe seien immer nur dann aufgetreten, wenn die Mutter kurz vorher allein bei Leon gewesen sei, ergänzt Dr. Beste. »Wir vermuten, dass Leon am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet, zugefügt durch seine Mutter«, merkt die Oberärztin an.
Die beiden
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