Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
französische Schriftsteller Emile Zola starb 1902 in Paris an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung – der Kaminabzug in seinem Wohnhaus hatte versagt. Die Schweizer Malerin und Bildhauerin Sophie Taeuber-Arp, bis heute bekannt als »die Frau auf dem Fünfzig-Franken-Schein«, kam 1943 gleichfalls durch Kohlenmonoxid um. Zwei von unzähligen tragischen Todesfällen, die im 20. Jahrhundert die Öffentlichkeit erschütterten.
Nur scheinbar gehören solche Tragödien einer fernen Vergangenheit an, in der unsere Groß- oder gar Urgroßeltern ihre Wohnungen mit Kohleöfen beheizten und mit Gaslampen schummrig beleuchteten. Tatsächlich rangieren Intoxikationen mit Kohlenmonoxid in den Industrienationen auf Platz eins der tödlichen Vergiftungsarten. Allein in Deutschland kommen jährlich zwischen 1500 und 2000 Menschen durch eine Kohlenmonoxid-Vergiftung ums Leben.
Erdgas in unseren modernen Heizsystemen enthält zwar – anders als seine Vorgänger, das Stadtgas und das Leuchtgas – kein Kohlenmonoxid mehr. Und auch Suizide mit Autoabgasen kommen hierzulande nur noch selten vor, seit moderne Katalysatortechnik den Kohlenmonoxid-Anteil im Abgas minimiert hat. Doch bei der Verbrennung von Gas und festen Brennstoffen wird nach wie vor Kohlenmonoxid freigesetzt.
Defekte Gasthermen und blockierte Schornsteine löschen nicht selten ganze Familien aus. Die Renaissance von Öfen und Kaminen – als dekorative Alternative oder kostensparende Ergänzung zur modernen Heizung – trägt gleichfalls dazu bei, dass wir Rechtsmediziner es auch im 21. Jahrhundert nach wie vor mit Kohlenmonoxid-Giftopfern zu tun bekommen.
Durch isolierverglaste Fenster und kältebrückenfrei gedämmte Wände sind viele Wohnungen heute ungleich besser abgedichtet als in der Ära der Kohleheizungen. So kann sich die Raumluft schon bei kleinen Abzugsstörungen rasch mit tödlichem Kohlenmonoxid anreichern. Gleichzeitig mangelt es in der heutigen Bevölkerung vielfach an elementarem Wissen über die Gefährlichkeit dieses geruchlosen Gases, vor dem unser Organismus uns eben nicht durch ein quälendes Erstickungsgefühl warnt.
Vor allem in Ländern mit niedrigen Sicherheitsstandards kommen nach wie vor mit trauriger Regelmäßigkeit zahlreiche Kumpel durch Bergwerksunglücke zu Tode. Um nicht von tödlichen Kohlenmonoxid-Konzentrationen unter Tage überrascht zu werden, nahmen die Bergleute im Harz früher Kanarienvögel mit »in den Berg«, die sogenannten Harzer Roller (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen deftigen Weichkäse). Wenn die Vögel aufhörten zu singen und bewusstlos von ihrer Stange fielen, war es für die Kumpel höchste Zeit, ans Tageslicht zurückzukehren. In modernen europäischen Bergwerken haben elektronische Sensoren die Kanarienvögel ersetzt, und Grubengase werden ab einer bestimmten Konzentration automatisch abgesaugt.
Aber selbst eine ganze Schar Kanarienvögel hätte einem jungen Heavy-Metal-Fan beim Wacken-Festival 2012 vermutlich nicht das Leben retten können: Um sich vor Kälte und Regen zu schützen, legte er sich auf seinem Pkw-Anhänger unter einer zeltartig aufgespannten Plastikplane schlafen. Durch ein in Dauerbetrieb laufendes Dieselaggregat in unmittelbarer Nähe wurden stundenlang kohlenmonoxidhaltige Abgase unter die Plane geblasen. Am nächsten Morgen war der junge Mann tot – im Schlaf gestorben durch eine Kohlenmonoxid-Intoxikation.
Unglücksfälle dieser Art ereignen sich weltweit sehr häufig. Doch größeres Aufsehen erregen sie meist nur dann, wenn sie durch ungewöhnliche Umstände oder durch die Zahl der Opfer besonders tragisch erscheinen. So machte im Dezember 2010 ein Drama Schlagzeilen, das sich an der US-Westküste abspielte: Fünf junge Männer zwischen 16 und 19 Jahren feierten in einem Motelzimmer eine Geburtstagsparty. Die Zündung ihres Autos, das sie in der Garage direkt unter dem Zimmer geparkt hatten, war defekt, daher ließen sie den Motor die Nacht über laufen. Irgendwann legten sie sich schlafen, und durch den Holzfußboden drangen unaufhörlich Autoabgase zu ihnen herauf. Am nächsten Tag bot sich dem Motel-Betreiber ein furchtbarer Anblick: Die fünf Jugendlichen waren allesamt tot.
In meinen fast zwei Berufsjahrzehnten als Rechtsmediziner habe ich schon so viele tödliche Kohlenmonoxid-Vergiftungen – sei es am Leichenfundort oder vor mir auf dem Sektionstisch – gesehen, dass ich sie nicht mehr zählen kann. Manchmal sieht man schon auf den ersten Blick, womit man
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