Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
komme, sei ja sattsam bekannt.
Doch mit dieser Attacke läuft die Verteidigung von Silke Appelt ins Leere. Ausführlich und völlig emotionslos erläutert Dr. Guddat nochmals, dass eine wiederholte Blutvergiftung mit vierzehnmal wechselnder Zusammensetzung der Keimspezies keinesfalls durch mangelnde Hygiene hervorgerufen werden könne. Bei den nachgewiesenen Bakterien handele es sich ausnahmslos um Darmkeime. Als Quelle komme einzig der Verdauungsapparat eines lebenden Menschen in Frage. Deshalb hätten die Ärzte ja so beharrlich durch immer neue Darmspiegelungen versucht, einen Defekt in der Darmwand des Jungen aufzuspüren. Da diese aber keinen Defekt aufwies, müssten die verabreichten Fäkalbakterien von einer Person aus der Umgebung des Jungen stammen. Der Inhalt wie auch die Außenfläche der in der Waschtasche aufgefundenen Einwegspritze wiesen Silke Appelts DNA auf. Und schließlich habe der Junge immer nur dann Blutvergiftungen erlitten, wenn er unmittelbar vorher von Silke Appelt »versorgt« worden war.
Dr. Guddat wird als Sachverständige entlassen. Der Verteidigung ist es nicht gelungen, die Glaubwürdigkeit unseres Gutachtens zu erschüttern.
Unter der drückenden Beweislast bricht die Angeklagte nach fast zweimonatigem Schweigen zusammen. Am zehnten Verhandlungstag lässt sie eine ihrer Verteidigerinnen eine vorbereitete Erklärung vorlesen.
»Ich habe meinem Sohn sehr geschadet«, heißt es darin. »Es stimmt, dass ich Leon meinen eigenen Kot gespritzt habe. Diesen habe ich in der allgemein zugänglichen Besuchertoilette auf eine Kanüle gezogen, so dass ein wässriges Gemisch entstand. Ich habe das zweimal gemacht – warum und wie ich auf diese Idee kam, kann ich nicht erklären.«
Keinesfalls habe sie ihr Kind töten wollen, heißt es in ihrer Erklärung weiter. »Es war immer so, dass Leon, wenn er Fieber bekam, von den Schwestern und Ärzten noch mehr Zuwendung erhielt. Ich habe auch immer die Schwestern geholt, wenn er Fieber hatte, und dann ging es ihm auch besser. Von der Intensivstation kam er rasch zurück, so dass ich nie Angst um sein Leben hatte. Ich vertraute den Ärzten, auch wenn es von außen nicht immer so aussah.«
Abschließend beteuert die Angeklagte, dass Leon ihr Wunschkind sei und dass sie ihm niemals habe schaden wollen. »Die größte Strafe für mich ist, dass ich meinen Sohn nicht mehr sehen kann. Ich bereue, was ich Leon angetan habe. Es gibt keine Entschuldigung dafür.«
Am elften Verhandlungstag räumt sie zusätzlich ein, ihrem Sohn noch ein drittes Mal ihren eigenen Kot in den Hickman-Katheter am Hals gespritzt zu haben. Darüber hinaus macht sie keine Angaben und beantwortet auch keinerlei Fragen mehr.
Nach dem Geständnis der Angeklagten bleibt für das Gericht noch die Schuldfähigkeit zu klären und das Strafmaß festzulegen. Ein weiterer Sachverständiger wird gehört: Der Nervenarzt und Psychotherapeut Arno Gellert erläutert, dass Silke Appelt durch Erfahrungen häuslicher Gewalt in der Kindheit und sexuellen Missbrauchs als Jugendliche seelischen Schaden genommen habe. Ihre Einsichts- und Steuerungsfähigkeit sei zur Tatzeit erheblich eingeschränkt, jedoch nicht gänzlich aufgehoben gewesen.
Das Gericht schließt sich der Ansicht des Sachverständigen an. Ein vorsätzlicher Tötungsversuch kann der Angeklagten nicht nachgewiesen werden. Ihre Behauptung, sie habe darauf vertraut, dass die Ärzte Leon nach jeder Attacke retten würden, lässt sich nicht widerlegen. So wird sie schließlich wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen, gefährlicher Körperverletzung sowie Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Verteidigung legt Einspruch ein, doch der Bundesgerichtshof bestätigt das Urteil im März 2010 in letzter Instanz: Die Berliner Richter hätten bereits ein äußerst mildes Urteil gesprochen, da sie der Angeklagten erheblich verminderte Schuldfähigkeit zubilligten.
Wenn sich für Silke Appelt nach spätestens viereinhalb Jahren die Gefängnistore wieder öffnen, ist sie immer noch eine junge Frau. Das Gericht hat in seinem Urteil darauf hingewiesen, dass die Angeklagte erneut ein Kind gebären und an diesem »ihre psychiatrische Erkrankung ausleben« könnte. Dennoch hat sich die Strafkammer dagegen entschieden, Silke Appelt nach Verbüßung ihrer Strafe in einer psychiatrischen Einrichtung unterbringen zu lassen.
Der lautlose Tod
D er berühmte
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