Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
jeweils in den Hickman-Katheter injiziert wurden, lässt sich anhand der untersuchten Keimkulturen nicht festlegen, da das Bakterienwachstum im Körper von unterschiedlichen Faktoren abhängt. Aber der Schluss liegt nahe, dass jedes Mal dann, wenn eine neue Keimzusammensetzung in Leons Blut nachgewiesen wurde, dem Jungen kurz vorher eine weitere Injektion verabreicht worden sein muss. Insgesamt sind in der Krankenakte 14 Keimspezieswechsel dokumentiert. Aus rechtsmedizinischer Sicht besteht somit der Verdacht, dass Silke Appelt dem Jungen mehrfach ihren eigenen Kot über den zentralen Venenkatheter zugeführt hat – höchstwahrscheinlich mindestens vierzehnmal.
Am 22. April 2008 erlässt das Amtsgericht Tiergarten Haftbefehl gegen Silke Appelt. Sie wird ins Untersuchungsgefängnis gebracht, verweigert die Nahrungsaufnahme und magert auf 33 Kilogramm ab. Zeitweilig schwebt sie in Lebensgefahr und wird ab Anfang Juli vom Vollzug der U-Haft verschont. Stattdessen muss sie sich zunächst auf der geschlossenen psychiatrischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses behandeln lassen. Schließlich erhält sie die Erlaubnis, bei ihren Eltern in der brandenburgischen Provinz zu wohnen, und muss sich zweimal pro Woche bei der örtlichen Polizei melden. Die Eltern sind beide arbeitslos und beziehen Hartz IV.
Mittlerweile hat das Familiengericht Ingo Appelt das alleinige Sorgerecht übertragen. Leon, inzwischen drei Jahre alt, lebt bei seinem Vater. Zur Mutter haben er und sein Vater seit fast anderthalb Jahren keinen Kontakt mehr, als im April 2009 der Prozess vor der 32. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin beginnt.
Medien und Öffentlichkeit nehmen lebhaften Anteil an der Verhandlung gegen Silke Appelt. Deren Verteidigerinnen geben sich zunächst siegesgewiss: Die Behauptungen der Staatsanwaltschaft seien abwegig. Nicht durch heimtückische Mordanschläge seitens seiner eigenen Mutter, sondern durch krasse Hygienemängel in Prof. Hütterers Klinik sei Leon lebensgefährlich vergiftet worden.
Die Angeklagte schweigt zu allen Vorwürfen. So läuft es also auf einen Indizienprozess hinaus. Und bald schon zeigt sich, dass die Verteidigung auf wackligen Füßen steht. Oberstaatsanwalt Wandler lässt zahlreiche Zeugen aufmarschieren. Die Klinikärzte, der Chefmikrobiologe und die Schwestern von Station 15C werden angehört. Kriminaloberkommissarin Drillich referiert ihre Ermittlungsergebnisse.
Auch die Diplom-Psychologin Monika Dorrit wird in den Zeugenstand gerufen. Sie hat für ein weiteres forensisch-psychiatrisches Gutachten ausführlich mit der Angeklagten gesprochen. Die Psychologin berichtet, dass sich Silke Appelt seit Anfang 2009 auf eigenen Wunsch in psychotherapeutischer Behandlung befinde. Sie habe ihr anvertraut, dass sie in ihrer Kindheit häufig von ihrem Vater geschlagen worden sei. Als Jugendliche sei sie von einem Onkel über Jahre hinweg sexuell missbraucht worden. Als sie damit gedroht habe, ihn anzuzeigen, habe sich der Onkel umgebracht. Deshalb fühle sie sich bis heute schuldig.
Im vergangenen Oktober, führt die Psychologin weiter aus, habe Silke Appelt zu ihr gesagt: »Ich habe keine Hoffnung mehr.« Daraufhin habe sie die Angeklagte gefragt: »Warum haben Sie keine Hoffnung mehr? Weil viele Leute glauben, Sie hätten Ihr Kind geschädigt, oder weil es wirklich so war?« Und Silke Appelt habe geantwortet: »Weil es so war.«
Als Sachverständige des Instituts für Rechtsmedizin der Charité erläutert Dr. Saskia Guddat die wesentlichen Punkte unseres Gutachtens: Als Ursachen für die wiederholte Vergiftung des Jungen mit Darmbakterien in seinem Blut scheiden Hygienemängel in der Klinik definitiv aus. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Keime mit den Einwegspritzen injiziert wurden – und deren Inhalt und Außenfläche weisen den genetischen Fingerabdruck von Silke Appelt auf.
Den Verteidigerinnen ist natürlich klar, dass das rechtsmedizinische Gutachten ein wesentliches Fundament der Anklage darstellt. Entsprechend vehement attackieren sie Dr. Guddats Interpretation der Befunde. Dass auf Station 15C damals angeblich keine Hygienemängel festgestellt wurden, argumentieren sie, beweise überhaupt nichts: Schließlich habe die Klinik selbst diese Untersuchungen angestellt, und dort habe man sicher kein Interesse daran, etwaige Verunreinigungen zuzugeben. Und dass es gerade auf Kinderstationen durch eingeschleppte Viren oder Bakterien immer wieder mal zu tragischen Vorfällen
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