Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Bruder Jean-Claude außer sich vor Freude. Die jungen Männer stammen von der Elfenbeinküste, aber Jean-Claude lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren in Berlin. Laurent studiert Maschinenbau in Helsinki – und so haben sich die beiden Schwarzafrikaner zuletzt vor fast zwei Jahren gesehen.
Sie begrüßen sich überschwenglich. Auch Jean-Claudes Ehefrau Louise und ihre drei kleinen Kinder sind mit zum Bahnhof gekommen, um den sehnlichst erwarteten Gast willkommen zu heißen.
In Jean-Claudes betagtem Toyota fahren sie zurück zu dem Mietshaus in Berlin-Reinickendorf, wo die fünfköpfige Familie in einer engen Dachgeschosswohnung lebt. Laurent muss auf einer Klappliege in der Küche übernachten, aber das stört den 25-jährigen Studenten überhaupt nicht. Hauptsache, er kann endlich wieder einmal mit seinem großen Bruder und dessen Familie palavern, lachen und feiern.
Vor Freude über das Wiedersehen trinken Laurent und Jean-Claude am Abend ein paar Gläser zu viel. Aber am nächsten Morgen klagt nur Laurent über Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Der zwei Jahre ältere Jean-Claude lacht ihn aus: »In deinem Alter habe ich doppelt so viel vertragen!«
Sie machen einen langen Spaziergang an der Spree. Die eiskalte Winterluft lindert Laurents Beschwerden. Doch als sie am Abend wieder um den Esstisch im Wohnzimmer versammelt sitzen, trinkt er keinen Tropfen Alkohol.
Trotzdem fühlt er sich am nächsten Morgen noch elender als am Vortag. Er hat stechende Kopfschmerzen. Ihm ist so schwindelig, dass er am liebsten auf seinem Klappbett liegen bleiben würde. Aber das geht nicht – Schwägerin Louise beansprucht die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten.
Laurent begleitet seinen Bruder und die Kinder zur Schlittschuhbahn. Es ist der Tag vor Heiligabend, und die ganze Stadt ist festlich geschmückt. An der frischen Luft fühlt sich Laurent wieder ein wenig besser. Aber Jean-Claude kann ihn anspornen und aufziehen, so viel er will – sein kleiner Bruder weigert sich, auf Schlittschuhen ein paar Runden auf der Eisbahn zu drehen. Dabei ist er eigentlich der sportlichere der beiden Brüder. In Helsinki hat er sich zu einem richtigen Wintersport-Freak entwickelt. Doch er fühlt sich zu schwindlig und schwach.
Jean-Claude und Louise fangen an, sich Sorgen zu machen. Aber Laurent wiegelt ab: »Alles halb so wild.« Höchstwahrscheinlich habe er sich eine Grippe eingefangen. Schließlich will er seinem Bruder und der Schwägerin nicht zur Last fallen.
Am nächsten Morgen, lange vor Tagesanbruch, wird die Familie durch ein gurgelndes Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Jean-Claude stürzt in die Küche – dort windet sich sein Bruder auf der Schlafliege, mit verdrehten Augen und Schaum vor dem Mund. Seine Arme und Beine zucken. Er wirft den Kopf hin und her – und fällt im nächsten Moment in tiefen Schlaf.
Jean-Claude ist alarmiert. Sein Bruder leidet offenbar an einer ernsten, möglicherweise lebensgefährlichen Krankheit. Nur mit großer Mühe gelingt es ihm, Laurent aufzuwecken. Der Jüngere reagiert erstaunt, als Jean-Claude ihn fragt, ob er öfter solche Anfälle habe.
»Was denn für Anfälle?«, antwortet er und will von seinem Bett aufspringen. Aber dann ächzt er und hat Mühe, sich aufzurappeln. »Mir tut alles weh«, sagt er. »Jeder einzelne Muskel in Armen und Beinen – als ob ich den ganzen Tag Langlaufski gefahren wäre.«
Auch seine Zunge fühlt sich wund und geschwollen an. Während seines »Anfalls« muss er sich darauf gebissen haben. Doch er erinnert sich an nichts.
»Wenn du mich fragst, das war ein epileptischer Krampfanfall«, sagt Jean-Claude. »Du musst zum Arzt gehen – keine Widerrede!«, fügt er energisch hinzu, als Laurent protestiert. »Ich bin hier der Familienälteste, und ich bringe dich jetzt auf der Stelle ins Krankenhaus.«
In der Klinik wird Laurent Boigny gründlich durchgecheckt. Die computertomographische Untersuchung ergibt, dass der junge Mann an einem Hirntumor leidet. Die Klinikärzte regen eine sofortige Operation an, aber davon will Laurent nichts wissen. Er ist niedergeschlagen und durcheinander. Kann er sich nicht gleich zu Anfang des neuen Jahres in Finnland operieren lassen, wo er als Student krankenversichert ist?, fragt er schließlich. Die Ärzte stimmen zu.
Auf dem CT-Bild ist zu sehen, dass der Tumor in Laurents Kopf von der Hirnanhangdrüse ausgeht und einen Durchmesser von einem Zentimeter hat. Der Hirndruck ist noch im Normalbereich. Ein
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