Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
plötzliches schnelles Wachstum des Tumors und eine damit eintretende rapide Verschlechterung seines Gesundheitszustandes ist nach Ansicht der Klinikärzte innerhalb der nächsten Tage nicht zu erwarten.
Sie sind sich sicher, mit dem Tumor die Ursache des epileptischen Krampfanfalls gefunden zu haben. Die Hälfte aller Hirntumorpatienten leidet an epileptischen Anfällen. Doch die lassen sich mit einem Antiepileptikum gut beherrschen.
»Legen Sie sich aber in Finnland gleich nach Neujahr unters Messer«, schärft einer der Ärzte seinem Patienten noch ein. »Und vergessen Sie nicht, regelmäßig die Tabletten einzunehmen.« Dann wird Laurent Boigny mit Einverständnis der Klinikärzte entlassen.
Sein Bruder hat ihm während der stundenlangen Untersuchungen beigestanden. Als sie zu Jean-Claudes Wohnung zurückfahren, ist es schon dunkel. Heiligabend.
Zu Hause hat Schwägerin Louise alles für die feierliche Bescherung vorbereitet. Der Tannenbaum ist geschmückt, die Geschenke sind verpackt, das Festessen steht auf dem Tisch.
Laurent ist an diesem Abend in sich gekehrt. Seinem Bruder kommt er immer noch bedrückt vor – kein Wunder, denkt Jean-Claude, nach so einer Diagnose.
Doch im Verlauf des Abends hellt sich Laurents Stimmung wieder auf. Mehrfach schaut er sich das CT-Bild seines Tumors an. »So eine winzige Wucherung«, sagt er zu seinem Bruder. »Wäre doch gelacht, wenn ich mich von dieser Erbse unterkriegen lassen würde!«
Sorgfältig liest er den Beipackzettel seines Antiepilektikums durch und nimmt die für den Abend vorgeschriebene Dosis ein. Mit Rücksicht auf Laurent gehen sie alle früh zu Bett.
Als Jean-Claude am nächsten Morgen in die Küche kommt, liegt sein Bruder bäuchlings auf dem Boden neben dem Klappbett. Sein Kopf ist zur Seite verdreht, sein Mund mit blutigem Schaum verschmiert. Laurent ist nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet, und so nimmt Jean-Claude wahr, dass sich Laurents Darm unkontrolliert entleert hat.
Er kauert sich neben seinen Bruder und rüttelt ihn am Arm. Doch dann prallt er förmlich zurück: Laurents Körper fühlt sich eiskalt an. Und er ist steif und starr.
Totenstarr.
»Die Ärzte haben ihn umgebracht!«, schreit Jean-Claude Boigny. »Sie haben ihn entlassen, obwohl er diesen Tumor und Krämpfe hatte! Wenn sie ihn sofort operiert hätten, wäre er noch am Leben!«
Kriminaloberkommissar Jürgen Hauck kann die Wut und den Schmerz des jungen Schwarzafrikaners gut nachempfinden. Wenn Ärzte bei jemandem einen Hirntumor feststellen, ihn nach Hause schicken und er am nächsten Tag tot aufgefunden wird – dann stellt sich zweifellos die Frage, ob sie mit ihrer Einschätzung, dass keine sofortige Operation nötig sei, richtiggelegen haben.
Aus den Entlassungspapieren, die die Klinik am Heiligabend ausgestellt hat, geht eindeutig hervor, dass Laurent Boigny nicht entgegen ärztlichem Rat, sondern mit Einverständnis der behandelnden Mediziner entlassen worden ist. Also empfiehlt der Oberkommissar dem zuständigen Staatsanwalt eine Obduktion wegen des Verdachts auf Fremdverschulden. Der Richter, der die Ermittlungsakte vom Staatsanwalt nach den Weihnachtstagen auf den Tisch bekommt, sieht das genauso. Und so landet Laurent Boigny vier Tage nach Weihnachten bei mir im Institut für Rechtsmedizin auf dem Obduktionstisch.
Die konkreten staatsanwaltlichen Fragen an uns lauten: Hätten die Ärzte dem Patienten zur sofortigen Operation raten müssen, anstatt ihn nach der Untersuchung nach Hause zu entlassen? Oder hätte er nicht zumindest zu weiterer Überwachung stationär aufgenommen werden müssen? Ist Laurent Boigny aufgrund diagnostischer Versäumnisse gestorben? Wäre er noch am Leben, wenn die Ärzte sofort operiert oder ihn zumindest stationär überwacht hätten? An der mutmaßlichen Todesursache, dem Hirntumor, zweifelt zu diesem Zeitpunkt im Grunde niemand.
Bei schnell wachsenden Hirntumoren wird der Tod häufig durch einen Anstieg des Hirndrucks verursacht. Das Gehirn wird durch den Tumor einerseits insgesamt größer, andererseits reagiert es relativ unspezifisch auf diesen »Fremdkörper«, und zwar mit einem Hirnödem: Es schwillt an. Das Gehirn kann sich aber innerhalb der Schädelhöhle kaum ausweiten, da das knöcherne Schädeldach nicht nachgibt. Deshalb dehnt es sich auf dem einzigen möglichen Weg aus, nämlich nach unten in Richtung Wirbelsäule.
Dort ist im Schädel eine Öffnung ( Foramen magnum – großes Hinterhauptsloch), durch die
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