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Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)

Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)

Titel: Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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Reihe nach: Wenn die Konzentration von Kohlenmonoxid im Blut über einen gewissen Prozentsatz steigt, kommt es bei den Betroffenen zunächst zu Schwindelgefühl, Müdigkeit und Kopfschmerzen. Steigt der Kohlenmonoxidgehalt im Blut weiter an, weil sich der Betreffende immer noch dem ausströmenden Gas aussetzt, dann verliert er das Bewusstsein.
    Kohlenmonoxid blockiert die Bindungsstellen des Sauerstoffs am Hämoglobin, dem roten Blutfarbstoff, indem es sich dort anlagert. So verhindert es, dass das Hämoglobin seiner eigentlichen Aufgabe nachkommen kann, nämlich dem Transport von Sauerstoff.
    Die Betroffenen ersticken auf zellulärer Ebene und damit ohne Erstickungsgefühl, da sich das Ganze für sie völlig unbemerkt und schmerzfrei abspielt.
    Wenn etwa fünfzig Prozent des Hämoglobins von Kohlenmonoxid blockiert sind und damit nicht mehr für Sauerstoffmoleküle zur Verfügung stehen, besteht akute Lebensgefahr. Steigt die Konzentration weiter an, tritt unweigerlich der Tod ein.
    Mit Kohlenmonoxid angereichertes Hämoglobin hat eine kräftige hellrote, auch als kirschrot bezeichnete Eigenfarbe, die sich deutlich von dem Rotton unterscheidet, den »normales«, mit Sauerstoff angereichertes Blut aufweist. Diese Tatsache kann dem Rechtsmediziner bei der Obduktion erste Verdachtsmomente liefern.
    Bereits im Altertum war Kohlenmonoxid als Suizid- und Mordgift bekannt. Schon im preußischen Landrecht von 1794 heißt es: »Der unvorsichtige Gebrauch der Kohlen in verschlossenen Gemächern und der Dampf, der darin befindlichen Personen gefährlich werden könnte, ist unter Strafe gestellt.« Ich selbst erinnere mich noch sehr gut, dass bei meiner Großmutter das Badewasser mit einem im Badezimmer fest installierten Kohleofen aufgeheizt wurde. In die Badezimmertür waren in Bodennähe Lüftungsschlitze eingelassen, und von innen warnte ein Schild: »Nicht verschließen!« Sonst hätte die Anreicherung von Kohlenmonoxid – als Resultat der Kohleverbrennung in der Raumluft – möglicherweise zum Tod geführt.

    Als Mordgift machten sich die Nationalsozialisten Kohlenmonoxid vor allem bei der berüchtigten »Aktion T4« zunutze. Unter diesem Kürzel befahl Adolf Hitler im Jahr 1939 die Ermordung von ungefähr 100000 geistig behinderten Menschen, die im NS-Sprachgebrauch als »lebensunwert« galten. Für ihren zynisch so genannten »Gnadentod« wurden die Opfer in luftdicht abgeschottete Schuppen oder Hallen gepfercht, in die man etwa zwanzig Minuten lang Kohlenmonoxid einleitete. Erst wenn sich im Vergasungsraum niemand mehr rührte, wurde die Kohlenmonoxid-Zufuhr eingestellt. Hilfskräfte mit Gasmasken öffneten die Tore. Ihnen bot sich ein Anblick wie aus dem Innersten der Hölle: Die Leichen waren mit Exkrementen und Erbrochenem beschmutzt. Viele Opfer hatten sich im Sterben aneinandergeklammert und mussten gewaltsam voneinander gelöst werden, damit man die Körper zu den Krematoriumsöfen bringen konnte …

    Vor diesem Hintergrund erscheint die Spekulation von Oberkommissar Bartusch in unserem Fall nicht abwegig: Der keineswegs ungebildete Sven Habert, in dessen Wohnung die Kriminalbeamten eine ganze Bibliothek mit »braunen« Kampfschriften fanden, hat zweifellos gewusst, welche Rolle Kohlenmonoxid bei den Massenmorden der Nazis spielte. Vielleicht wurde er erst durch solche Lektüre auf die Idee gebracht, sich selbst mit Kohlenmonoxid zu vergasen. Demnach hätte er sich aus krankhaftem Selbsthass das Leben genommen.
    Tatsächlich ergab unsere toxikologische Untersuchung, dass Sven Haberts Herzblut einen Kohlenmonoxid-Gehalt von 66 Prozent aufwies – auch ohne noch weitere Plastikbeutel aufzustechen, die er vorsorglich mit selbst produziertem Kohlenmonoxid gefüllt hatte.

    Übrigens wurde in Berlin noch bis in die 1990er Jahre mit »Stadtgas« gekocht und geheizt, was immer wieder zu tragischen Unglücksfällen führte – das Stadtgas hatte immerhin einen Kohlenmonoxid-Anteil von zehn Prozent. Aber auch Suizidenten, die ihrem Leben ein Ende setzten, indem sie den Gashahn am Küchenherd aufdrehten, waren jahrzehntelang für Polizisten und Notärzte ein schaurig vertrauter Anblick.
    Das heutzutage in Haushalten verwendete Erdgas enthält kein Kohlenmonoxid mehr. Doch das bedeutet keineswegs, dass man in deutschen Wohnungen seither vor tödlicher Gasvergiftung sicher wäre …

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    Als Laurent Boigny zwei Tage vor Weihnachten im Berliner Hauptbahnhof aus dem ICE steigt, ist sein älterer

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