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Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)

Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)

Titel: Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Tsokos
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das Rückenmark mit dem Gehirn verbunden ist. Kurz oberhalb des Hinterhauptslochs befindet sich der Hirnstamm, der die verschiedenen Teile des Gehirns, wie Großhirn, Kleinhirn und Mittelhirn, mit dem Rückenmark verbindet. Wenn sich das Gehirn nach unten ausdehnt, wird der Hirnstamm durch das Hinterhauptsloch in den Wirbelkanal gedrückt, was lebensgefährliche Folgen hat. Klemmt sich der Hirnstamm dort ein, dann wird das Kreislaufzentrum komprimiert, und da im Hirnstamm sämtliche Kreislauf- und Atemreflexe zentral auf übergeordneter Ebene gesteuert werden, setzen Herzschlag und Atmung aus. Die Folge: Der Betroffene stirbt.
    Auch bei einer schweren Alkoholvergiftung oder bei einem Schädel-Hirn-Trauma ist es genau dieser immer gleiche Mechanismus, der zum Tod führt: Das Gehirn reagiert auf jeden dieser schädigenden Einflüsse mit einer Hirnschwellung, die zur Einklemmung des Hirnstamms im Wirbelkanal, zur Kompression des Kreislaufzentrums und somit zu Atemlähmung führt.

    Die Ergebnisse der Obduktion von Laurent Boigny sind eine Überraschung. Bei der Untersuchung seines Gehirns kann ich keine Zeichen für eine Einklemmung des Hirnstamms feststellen. Der Tumor hat noch immer einen Durchmesser von einem Zentimeter, und das Gehirn weist auch keine Schwellung auf.
    Woran also ist Laurent Boigny verstorben? Die Ärzte in der Klinik lagen in ihrer Einschätzung seines gesundheitlichen Zustandes richtig, als sie seinem Drängen nachgaben und ihn entließen, anstatt sofort zu operieren oder ihn zumindest noch einige Zeit stationär zu überwachen. Aber vielleicht lagen sie mit ihrer Diagnose trotzdem zumindest teilweise falsch?
    Es ist zunächst nur ein Bauchgefühl. Doch ich habe gelernt, auf solche Signale zu achten. Intuition ist ja oftmals nichts anderes als die Summe, die unser Unterbewusstsein aus persönlichen Erfahrungen zieht, die wir im Lauf der Jahre gemacht haben – in diesem Fall also aus meiner beruflichen Erfahrung mit Kohlenmonoxid-Vergiftungen.
    Das Leichenblut ist mir eine Spur zu hellrot verfärbt, aber das allein sagt noch nichts aus. Kurz entschlossen bitte ich unseren Toxikologen, noch während der Obduktion die Kohlenmonoxid-Konzentration im Hämoglobin des Herzbluts zu bestimmen und mich umgehend über das Ergebnis zu informieren. Mit einem unspezifischen Schnelltest wie der Formaldehyd-Probe ist mir hier nicht geholfen. Möglicherweise geht es um das Leben einer ganzen Familie, nämlich der von Jean-Claude Boigny. Deshalb muss definitiv geklärt werden, ob es eine Bedeutung hat, dass das Blut des Toten hellrot verfärbt ist.
    Übrigens untersuchen wir auch bei Brandtodesfällen regelmäßig den Kohlenmonoxid-Gehalt im Blut. Er gibt unter anderem Aufschluss darüber, ob die betreffende Person noch am Leben war, als der Brand ausbrach – oder ob womöglich nachträglich Feuer gelegt wurde, um ein Gewaltverbrechen zu vertuschen. War das Brandopfer noch am Leben, als das Feuer ausbrach, dann muss sich das in erhöhten Kohlenmonoxid-Blutwerten niederschlagen, weil der Betreffende ja noch einige Atemzüge gemacht und damit das Rauchgas eingeatmet hat.
    Kurz darauf liegt das toxikologische Untersuchungsergebnis vor: Laurent Boignys Herzblut weist eine Konzentration von siebzig Prozent Kohlenmonoxid auf – ein nicht nur extrem hoher, sondern auch in jedem Fall tödlicher Wert!
    Oh, verdammt, denke ich – die Kohlenmonoxid-Vergiftung hat er sich doch bestimmt in der Wohnung seines Bruders zugezogen! Der Tote hat seitdem vier Tage in unserer Kühlung gelegen – und während dieser ganzen Zeit ist irgendwo in der Wohnung Kohlenmonoxid ausgeströmt …
    Aus der Ermittlungsakte weiß ich, dass der Bruder des Verstorbenen verheiratet ist und drei Kinder hat. Vor meinem geistigen Auge sehe ich fünf Tote kreuz und quer in der Wohnung liegen.
    »Ich brauche ein Telefon – schnell!«, rufe ich meinen Mitarbeitern zu.
    Noch vom Obduktionssaal aus rufe ich den zuständigen Kriminaloberkommissar an. »Herr Hauck, bitte sorgen Sie dafür, dass die Familie sofort aus ihrer Wohnung geholt wird!«, sage ich. »Laurent Boigny ist an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung gestorben. Ich befürchte das Schlimmste für die Leute dort!«
    Angespannt warte ich auf einen Rückruf von Jürgen Hauck.
    Nach knapp einer Stunde ist er wieder am Telefon. »Alles gesund und munter, Herr Professor. Sie haben die Pferde umsonst scheu gemacht.«
    »Das kann nicht sein«, antworte ich. »Der Tote hat eine Konzentration von

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