Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
ihm die Schwefelsäure und die Ameisensäure gedient – wenn diese beiden Substanzen miteinander reagieren, werden große Mengen an Kohlenmonoxid freigesetzt.«
Linda Pauly schaut mich kopfschüttelnd an. »Wer sich so etwas ausdenken kann, ist doch zumindest einigermaßen intelligent und findig«, sagt sie. »Wenn er auch nur einen Bruchteil seiner kreativen Energie darauf verwendet hätte, sein Leben auf die Reihe zu bekommen – dann hätte er sich auch nicht umbringen müssen. Und wenn er sich unbedingt töten wollte«, wiederholt sie ihre Frage von vorhin, »warum hat er sich nicht einfach unter der Plastiktüte erstickt?«
»Aus medizinischer Sicht ist das nicht besonders rätselhaft«, antworte ich. »Wenn Sie an Sauerstoffmangel sterben – also beim klassischen Ersticken –, ist das ein qualvoller Tod. Wenn Sie sich dagegen mit Kohlenmonoxid vergiften, haben Sie kein Erstickungsgefühl, sondern spüren höchstens Schwindel und Kopfschmerzen. Sie werden müde, und ab einer Konzentration von etwa fünfzig Prozent Kohlenmonoxid in Ihrem Blut verlieren Sie das Bewusstsein. Steigt die Konzentration weiter an, ist nach kürzester Zeit Feierabend. Das Kohlenmonoxid blockiert die Sauerstoffaufnahme in den roten Blutkörperchen. Sie sterben an einem inneren Ersticken. Das läuft auf zellulärer Ebene ab. Die roten Blutkörperchen transportieren nicht mehr den Sauerstoff, wie es eigentlich sein sollte, sondern Kohlenmonoxid. Die roten Blutkörperchen stehen als Sauerstoffträger also nicht mehr zur Verfügung, und das läuft ganz ohne ein qualvolles Erstickungsgefühl ab. Davon merken die Betroffenen überhaupt nichts.«
Die junge Kriminalbeamtin sieht mich skeptisch an. So ganz scheint sie nicht davon überzeugt zu sein, dass Sven Habert diese ungewöhnliche Art der Selbsttötung gewählt hat, um ohne Erstickungsgefühl und damit möglichst wenig qualvoll zu sterben.
»Was ihn letztlich dazu bewegt hat und wie er auf die Idee dazu gekommen ist, kann ich natürlich auch nicht sagen«, räume ich ein.
Oberkommissar Bartusch hat längere Zeit geschwiegen und nachdenklich vor sich hin geschaut. »Ich hätte da eine Idee«, sagt er jetzt und sieht von Dr. Lilienthal und mir zu seiner Kollegin. »Erinnerst du dich?«, fragt er Kommissarin Pauly. »Das ging mir schon am Tatort durch den Kopf. Und jetzt, wo wir wissen, wie er sich getötet hat, denke ich das erst recht.«
Wir alle schauen ihn neugierig an.
»Ein Neonazi, der sich selbst vergast «, sagt Bartusch. »Wie sehr muss dieser Mann sich gehasst und verachtet haben!«
Inneres Ersticken
Kohlenmonoxid ist ein farbloses und geruchloses Gas, das bei der unvollständigen Verbrennung organischer Substanzen entsteht. Bei einer tödlichen Kohlenmonoxid-Vergiftung erstickt man ohne Erstickungsgefühl. Wer sich – versehentlich oder vorsätzlich – mit Kohlenmonoxid vergiftet, stirbt also einen vergleichsweise »sanften« Tod. Das macht die Tragik von tödlichen Unfällen durch Kohlenmonoxid-Vergiftung aus. Diese Eigenschaft hat Kohlenmonoxid allerdings auch zum Geheimtipp in einer makabren Suizidenten-Szene gemacht, deren Jünger sich zum Teil im Internet zu kollektiver Selbsttötung verabreden – aber dazu mehr am Ende dieses Kapitels.
Wenn man jemanden würgt oder drosselt oder ihm Mund und Nase gleichzeitig zuhält, kann der Betroffene nicht mehr ausatmen. Er bekommt also die »verbrauchte« (sauerstoffarme und mit Kohlendioxid angereicherte) Atemluft nicht mehr aus seinem Körper heraus. Das führt schon nach wenigen Sekunden zu einer Kohlendioxid-Retention, einer Anreicherung von Kohlendioxid im Blut. Kohlendioxid ist der stärkste Atemantrieb im Gehirn. Mehr Kohlendioxid im Blut bewirkt auf zentraler Ebene im Gehirn einen vermehrten Atemreiz, eine erhöhte Atemfrequenz und letztlich das Erstickungsgefühl, das jeder kennt, der einmal für längere Zeit die Luft angehalten hat.
Ein solches mit Todesängsten einhergehendes Erstickungsgefühl gibt es bei einer Kohlenmonoxid-Vergiftung aus den genannten Gründen (»inneres Ersticken«) nicht. Man bemerkt es also überhaupt nicht, wenn man sich damit vergiftet. Das kann hilfreich sein, wenn man sich das Leben nehmen will. Kohlenmonoxid ermöglicht ein sanftes Sterben. Doch es führt auch zu tödlichen Unglücksfällen, wenn irgendwo Kohlenmonoxid unbemerkt ausströmt und die Personen, die sich dort aufhalten, langsam vergiftet werden, bis sie das Bewusstsein verlieren und dann versterben.
Aber der
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