Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
vergiftet. Von den drei Kindern im Vorschulalter weist nur der vierjährige Junge mit 44 Prozent einen Kohlenmonoxid-Wert unter der in jedem Fall tödlichen Schwelle von fünfzig Prozent auf. Doch der Junge litt zusätzlich an einer eitrigen Mandelentzündung – und bei gesundheitlich angegriffenen Personen können bereits Kohlenmonoxid-Werte von vierzig oder 45 Prozent den Tod herbeiführen. So steht aus rechtsmedizinischer Sicht unzweifelhaft fest, dass die sechs Familienmitglieder an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung verstorben sind.
Überdies weisen alle sechs Körper die typischen Befunde einer Kohlenmonoxid-Vergiftung auf. Neben den hellrötlichen Leichenflecken sind das: lachsfarbene Muskulatur, kirschrotes Leichenblut, Lungenüberwässerung (Lungenödem), Hirnschwellung (Hirnödem) und akute Blutstauung in den inneren Organen.
Für die Ermittler der Polizei bleibt damit noch eine entscheidende Frage zu klären: Wo kommt das Kohlenmonoxid her? Ist die Gastherme defekt? Ist sie womöglich die Quelle, aus der das tödliche Giftgas ausgeströmt ist? Und wenn ja: Wer hat den Defekt verursacht – und wodurch?
Drei Tage, nachdem die Familie in ihrer Wohnung tot aufgefunden wurde, können die Hauptkommissare Glatter und Möller erste Antworten präsentieren. Ihre Ermittlungsergebnisse decken eine unglaubliche Schlamperei und schon kriminelle Fahrlässigkeit auf Seiten der Vermieter beziehungsweise der Hausverwaltung auf. Aber zusätzlich geraten zwei arme Schlucker ins Visier der Kripo.
Das Mietshaus gehört einer Investitionsgesellschaft mit dem klangvollen Namen Castle Real Estate Management. Als die Ermittler dort anfragen, wann und von wem die Gastherme in der betreffenden Wohnung zuletzt gewartet worden sei, werden sie an eine Hausverwaltung namens Optimal GmbH verwiesen, die im Auftrag der Eigentümer zahlreiche Objekte in Berlin betreut. Der Geschäftsführer von Optimal heißt Alexander Grabowski. Er empfängt Hauptkommissarin Möller in einem stilecht restaurierten Altbau im noblen Berlin-Lichterfelde – Lichtjahre von der Mietskasernen-Tristesse in der Otto-Hensel-Straße entfernt.
Auf dem Schreibtisch vor Grabowski liegt ein Schnellhefter, der nur wenige Papiere enthält. Auf die Frage der Hauptkommissarin, wieso er die Wohnung mit einer offenkundig defekten Heizungsanlage an die Familie vermietet habe, schiebt Grabowski ihr den Schnellhefter über den Tisch.
»Überzeugen Sie sich selbst«, antwortet er. »Die Therme wurde vor einer Woche gewartet. Frau Murke hat bei uns angerufen und mitgeteilt, dass ihre Heizung nicht funktioniert. Daraufhin haben wir sofort einen Techniker losgeschickt. Der Mann hat die Therme überprüft und so weit instand gesetzt, dass sie wieder lief. Er konnte sie wohl nicht vollständig reparieren, aber zumindest bekamen die Leute ihre Wohnung wieder warm.«
Hauptkommissarin Möller überfliegt das Wartungsprotokoll, das der Techniker genau acht Tage vor dem Tod der Familie angefertigt hat. »Plombe vom Gaszählerhahn auftragsgemäß entfernt«, heißt es dort, »Therme gereinigt und in Betrieb gesetzt.«
»Plombe entfernt?«, wiederholt sie. »Können Sie mir erklären, was das bedeutet, Herr Grabowski? Warum war der Gaszähler der Therme plombiert?«
Der Hausverwalter windet sich auf seinem Schreibtischstuhl. Das sei ein ganz normaler Vorgang, behauptet er. »Die Therme wurde vor sechs Jahren stillgelegt, weil die Vormieter der Murkes ihre Gasrechnung bei den Stadtwerken nicht bezahlt hatten. Davon haben wir als Hausverwaltung allerdings erst erfahren, als uns Frau Murke darüber informiert hat, dass die Therme in ihrer Wohnung nicht funktionierte und der Gaszähler verplombt war.«
Die Kriminalhauptkommissarin hat Mühe, ihre Verblüffung zu verbergen. »Heißt das, die Vormieter haben jahrelang in einer ungeheizten Wohnung gelebt?«, vergewissert sie sich.
Alexander Grabowski verzieht sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln. »Das wohl nicht«, antwortet er. »Vermutlich hatten sie mobile Elektro-Heizkörper.«
Sandra Möller schüttelt ungläubig den Kopf. »Sie haben also die Wohnung an Frau Murke vermietet, obwohl die Therme nicht funktioniert hat?«
Der Hausverwalter zuckt mit den Schultern. »Was heißt hier nicht funktioniert?«, entgegnet er. Die ganze Angelegenheit scheint ihm eher lästig als peinlich zu sein. »So eine Plombe versperrt lediglich den Zählerhahn und lässt sich leicht wieder entfernen. Technisch gesehen war die Therme die ganze
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