Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Position. »Und jetzt muss ich dringend an die frische Luft. Das würde ich Ihnen übrigens auch empfehlen.«
Der mysteriöse Tod der sechsköpfigen Familie bewegt die Öffentlichkeit weit über Berlin hinaus. Unter der Leitung der Kriminalhauptkommissare Sandra Möller und Felix Glatter beginnt die »Soko Biesdorf« in alle erdenklichen Richtungen zu ermitteln.
Erst wenige Jahre vorher hat ein verzweifelter Familienvater gleichfalls im Berliner Osten seine gesamte Familie ausgelöscht und anschließend sich selbst das Leben genommen. Hat Torsten Hollbruck aus ähnlichen Motiven und nach dem gleichen mörderischen Muster gehandelt, weil Jeanette Murke ihn verlassen und zum Vater ihrer Kinder zurückkehren wollte? Der Verdacht drängt sich auf, und die Berliner Zeitungen übertrumpfen einander mit entsprechenden Spekulationen und Schlagzeilen.
Dr. Lilienthal berichtet mir von der schaurigen Auffindesituation, und ich betrachte die Fotografien vom Geschehensort. Dabei kommt mir ein Kapitel aus dem fünfzig Jahre alten Atlas der gerichtlichen Medizin in den Sinn, in dem ich kurz vorher geblättert hatte. In diesem von Otto Prokop, dem Altmeister der Gerichtsmedizin, verfassten Buch wird eine ganz ähnliche Familientragödie dokumentiert: Eltern und Kinder, die tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden waren, vergiftet durch unbemerkt ausströmendes »Leuchtgas«. Dieses Gas, mit dem preußische Gaslampen im 19. Jahrhundert befeuert wurden, enthielt bis zu 15 Prozent Kohlenmonoxid. Die Fotografien von den beiden Dramen mit jeweils mehreren toten Kindern gleichen sich bis in Details, auch wenn es sich bei den historischen Bildern natürlich um Schwarzweiß-Aufnahmen handelt.
Auch aus meiner Sicht spricht alles dafür, dass Dr. Lilienthal mit seiner spontan geäußerten Vermutung ins Schwarze getroffen hat. Die Familie in der Otto-Hensel-Straße in Biesdorf ist höchstwahrscheinlich durch Kohlenmonoxid getötet worden.
Die zuständige Staatsanwältin ordnet umgehend die Sofortobduktion aller sechs Opfer an.
Bei einer Sofortobduktion lassen es die äußeren Umstände nicht zu, dass zunächst weitere Ermittlungsergebnisse zusammengetragen und ausgewertet werden und man dann erst entscheidet, ob überhaupt obduziert werden soll (zum Beispiel zur Eingrenzung der Todeszeit oder zur Klärung, um was für eine Waffe, um welches Werkzeug oder Gift es sich gehandelt hat). Sofortobduktionen können von dem jeweils diensthabenden Staatsanwalt der Abteilung für Kapitaldelikte unter bestimmten Voraussetzungen ohne richterlichen Beschluss veranlasst werden: wenn es sich offensichtlich um ein Tötungsdelikt handelt und verhindert werden soll, dass der mutmaßliche Täter einen zeitlichen Vorteil erhält, den er zur Flucht, zur Beseitigung von Spuren oder zum Beschaffen eines Alibis nutzen kann; oder wenn nicht auszuschließen ist, dass das Leben weiterer Personen in Gefahr ist, falls eine Todesursache nicht schnellstmöglich geklärt wird.
Noch am Tag der Auffindung der Toten beginnen Dr. Lilienthal und drei weitere Kollegen des Instituts in zwei Zweierteams mit der Sektion von Jeanette Murke, ihren vier Kindern und Torsten Hollbruck. Sie arbeiten konzentriert und gönnen sich kaum eine Pause; trotzdem ist es bereits später Nachmittag, als sie der »Soko Biesdorf« die Obduktionsergebnisse präsentieren können.
Die äußere Leichenschau hat ergeben, dass alle sechs Verstorbene rötliche Leichenflecken aufweisen, wie sie für eine Kohlenmonoxid-Vergiftung charakteristisch sind. Weder bei Jeanette Murke und ihren Kindern noch bei Torsten Hollbruck ließen sich irgendwelche äußeren Verletzungen feststellen.
»Das heißt also, dass kein Kampf stattgefunden hat«, schlussfolgert Hauptkommissar Glatter. »Jeanette Murke muss bis zuletzt geglaubt haben, dass sie alle einfach einen schlimmen Magen-Darm-Infekt erwischt hatten.«
Eine Kohlenmonoxid-Konzentration im Blut, die sich unter zehn Prozent bewegt, ist normal und ungefährlich. Sehr starke Raucher können durchaus einen bis zu 15-prozentigen Kohlenmonoxid-Anteil im Blut aufweisen. Das führt noch lange nicht zum Tod. Doch die von uns bei Frau Murke, ihren Kindern und bei Torsten Hollbruck gemessenen Werte liegen weit darüber.
Jeanette Murke hat einen Kohlenmonoxid-Wert von 62 Prozent im Herzblut. Bei dem 16 Monate alten Baby haben wir eine Kohlenmonoxid-Konzentration von 63 Prozent festgestellt. Torsten Hollbrucks Herzblut ist mit 52 Prozent Kohlenmonoxid
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