Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
Strafgefangener landet, hat meist jede Menge Zeit, über sein aus dem Gleis geratenes Leben nachzudenken. Besonders zu Beginn ihrer Haftzeit empfinden viele Insassen ihre neue Lebenssituation oftmals als unerträglich. Kein Wunder, dass Strafgefangene zu den suizidgefährdeten Personengruppen zählen. Häftlinge, die als Risikopersonen gelten, werden daher vom Wachpersonal besonders beobachtet und vom medizinisch-psychologischen Dienst betreut.
Dem Häftling in Zelle Nr. 113 traut das erfahrene Personal in der betreffenden Berliner JVA aber keinen Selbsttötungsversuch zu. Eher schon, dass er die Vertreter der Strafverfolgungsbehörden in den Wahnsinn treiben wird – so beharrlich und fintenreich ringt Lothar Torgau mit ihnen, um ein weiteres Mal seine Haftverschonung zu erreichen. In den wenigen Wochen, seit der 45-Jährige in der JVA einsitzt, hat er schon ein Dutzend Eingaben und Beschwerden an Gefängnis- und Abteilungsleiter, Gerichte und sonstige Behörden verfasst.
Auch an diesem Morgen Mitte Februar beginnt der Dienst des Vollzugsbeamten Holger Clemens damit, dass er die Zellen in seiner Abteilung routinemäßig aufschließt. Während er sich Zelle Nr. 113 nähert, geht ihm durch den Kopf, dass Torgau eigentlich alle Voraussetzungen besaß, um beruflich und gesellschaftlich erfolgreich zu sein. Er ist intelligent und gebildet, erfindungsreich und wortgewandt. Torgau selbst bezeichnet sich als »Kommunikationsfachmann«. Seine zweifellos beachtlichen kommunikativen Fähigkeiten hat er allerdings in den letzten zehn Jahren meist zu kriminellen Zwecken eingesetzt.
Mehrfach wurde er wegen kleinerer Betrugsdelikte angezeigt. Schließlich wurde ihm auch noch die Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit am Steuer entzogen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, weiter Auto zu fahren. Eines Tages geriet er in eine Fahrzeugkontrolle. Den Polizisten, der seinen Führerschein sehen wollte, stieß er mit der ganzen Wucht seiner barocken Gestalt zu Boden.
Nicht besser erging es zwei Polizeibeamten, die ihn an seinem letzten bürgerlichen Wohnsitz in Berlin-Steglitz verhaften wollten. Schließlich wurde der gebürtige Schwabe wegen mehrfachen Betrugs, Fahrens ohne Fahrerlaubnis und Widerstands gegen Polizeibeamte angeklagt und zu einer Gesamt-Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt.
Das Urteil ist bereits seit sechs Jahren rechtskräftig, aber bis vor kurzem hat Torgau es immer wieder geschafft, Haftaufschub »aus gesundheitlichen Gründen« zu erwirken. Angeblich leidet er an Herzbeschwerden, Kreislaufinstabilität und Atemnot – was allerdings bei 150 Kilogramm Lebendgewicht, verteilt auf knapp eins achtzig Körpergröße, auch nicht allzu verwunderlich ist.
Jedenfalls ist Torgau deutlich intelligenter als die meisten Häftlinge, mit denen es der Vollzugsbeamte Holger Clemens gewöhnlich zu tun hat. Unaufhörlich scheinen seine Gedanken um die Frage zu kreisen, wie er die Richter davon überzeugen kann, ihm erneut Haftverschonung zu gewähren. Wenn er nicht gerade Eingaben verfasst oder seine Rechtsanwälte empfängt, studiert er juristische und sonstige Fachliteratur aus der Gefängnisbibliothek.
Es ist 6:27 Uhr, als Clemens die massive Stahltür der Zelle Nr. 113 aufschließt. Trotz der frühen Uhrzeit ist er darauf gefasst, Torgau schon wieder an dem kleinen Tisch vorzufinden, in seine Akten und Bücher vertieft.
Doch dann steht Clemens mindestens zehn Sekunden lang in der offenen Tür, blinzelt mit den Augen und schüttelt ungläubig den Kopf.
Anstelle von Lothar Torgau in seiner Zelle erblickt er – nichts! Es ist wie bei einer Bildstörung im Fernsehen: Außer milchweißem Rauch ist nichts zu sehen.
»Herr Torgau?«, ruft Clemens.
Keine Antwort. Der Vollzugsbeamte verspürt ein heftiges Kratzen in Kehle und Rachen. Weiß der Himmel, was für einen Gascocktail Torgau da zusammengemischt hat!, geht es Clemens durch den Kopf.
Er führt seine Signalpfeife an den Mund und bringt einen durchdringenden Pfiff hervor.
Während sein Kollege Hartwig Müller den Zellengang entlang auf ihn zugerannt kommt, zieht Clemens sein Funkgerät aus der Gürteltasche. »Massive Rauchentwicklung in 113!«, ruft er dem Kollegen zu. »Verständige die Polizei und den Notarzt – ich spreche mit Frau Altweg!«
Wenig später treffen die beiden Vollzugsbeamten und die Abteilungsleiterin Dana Altweg an Torgaus Zelle ein. Holger Clemens richtet einen Feuerlöschschlauch ins Innere der Zelle, und der kräftige Strahl setzt
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