Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
in kürzester Zeit alles unter Wasser. Ein offenes Feuer ist nirgendwo in dem kleinen Raum zu entdecken, doch als Clemens den Löschstrahl auf den Toilettenbereich rechts neben der Tür lenkt, wirbeln dort Funken und glühende Papierfetzen auf.
»Das genügt«, sagt Dana Altweg.
Clemens stellt das Löschwasser ab. Die Abteilungsleiterin presst sich ihren Schal vor den Mund, stürzt in die immer noch rauchgefüllte Zelle und reißt das Fenster auf.
Nun endlich zieht der Qualm ab und gibt den Blick auf das Innere der Zelle frei. Das Bett an der rechten Längswand hinter Toilette und Waschbecken, der Tisch an der Wand gegenüber mit einem Stuhl davor und das Regal in der hinteren Ecke – alles ist von Löschwasser durchnässt und mehr oder weniger stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Boden der Zelle ist mit Löschwasserpfützen bedeckt, in denen zum Teil stark verkohlte Zeitungsfetzen schwimmen.
Auf dem Bett sitzt aufrecht, die Füße auf dem Boden, eine massige Gestalt. Lothar Torgau ist lediglich mit Schlappen und einem schwarzen Slip bekleidet, der von den herabhängenden Fettmassen seines Oberkörpers weitgehend verdeckt wird. Torgaus Haut ist durch Rauch und Hitze bräunlich verfärbt. Er sitzt mit dem Rücken an die Wand gelehnt, ein wenig nach rechts verrutscht. Seine Augen starren reglos auf den Tisch vor ihm, auf dem zwischen durchweichten Büchern und Schriftstücken ein halbleerer Tablettenblister liegt.
Clemens watet durch das Löschwasser zu Torgau und fühlt nach dessen Halsschlagader. »Kein Puls«, sagt er.
Auf Torgaus Kopf mit den kurz geschorenen blonden Haaren liegt ein von Hand beschriebenes Blatt Papier. »Ein Abschiedsbrief«, sagt der Vollzugsbeamte und wirft einen Blick darauf, ohne den Brief zu berühren.
Er wendet sich um und sieht Dana Altweg verwundert an. »Keine Ahnung, wie Torgau das hier hinbekommen hat«, fährt Clemens fort. »Aber mehr noch erstaunt mich, dass er sich getötet hat. Das hätte ich von Herrn Torgau niemals erwartet.«
Die Polizeibeamten, die gleichzeitig mit dem Notarzt eintreffen, lassen sich das Geschehene in groben Zügen berichten. Angesichts der sicheren Todeszeichen verzichtet der Notarzt auf Wiederbelebungsversuche. Auch für die Berufsfeuerwehr bleibt außer einer kurzen Nachschau nichts mehr zu tun. Dagegen wartet auf die Kripo und auf die Rechtsmedizin noch erhebliche Aufklärungsarbeit. »Todesursache nicht natürlich« hat der Notarzt auf dem Totenschein vermerkt.
Bereits um 6:45 Uhr, eine gute Viertelstunde, nachdem Clemens die Rauchentwicklung in Zelle Nr. 113 bemerkt hat, treffen zwei Beamte vom Kriminaldauerdienst in der JVA ein.
Der erfahrene Kriminalhauptkommissar Max Bethmann und sein gut 15 Jahre jüngerer Kollege, Kriminalkommissar Jo Caruss, befragen als Erstes den Vollzugsbeamten Holger Clemens. Dann inspizieren sie die Zelle, in der der Tote noch immer auf dem durchnässten Bett sitzt.
Nachdem Kommissar Caruss den Abschiedsbrief des mutmaßlichen Suizidenten von beiden Seiten fotografiert hat, asservieren die Kriminalbeamten das Schriftstück.
»Letzter Brief« hat Torgau seine finale Mitteilung überschrieben. Das Blatt ist gleichfalls durch Rauch und Löschwasser in Mitleidenschaft gezogen und nicht ohne weiteres zu entziffern. Nur die Nachschrift am Ende der zweiten Seite ist nicht beeinträchtigt.
»Ich habe einen Brief an meine Rechtsanwältin in meiner Unterhose«, heißt es dort. »Bitte weiterleiten.«
Hauptkommissar Bethmann wirft seinem jungen Kollegen einen aufmunternden Blick zu. »Dann mal los, Jo«, sagt er. »Wir müssen den Brief sofort sicherstellen, bevor er total durchgeweicht ist. Aber pass auf, dass du sonst nichts veränderst – sonst macht uns die Spurensicherung die Hölle heiß!«
Der jüngere Kriminalbeamte unterdrückt einen Seufzer und schreitet zur Tat. Auch mit Handschuhen ist es kein Vergnügen, einem extrem fettleibigen Toten ein Beweisstück abzunehmen, das in seiner Gesäßspalte vergraben ist. Zu allem Überfluss stellt sich anschließend heraus, dass der Brief so stark durchnässt und verschmutzt ist, dass die Kriminaltechniker schon wahre Wunder vollbringen müssen, um zumindest einen Teil des Inhalts zu rekonstruieren.
»Der gute Mann hat seine Zelle praktisch in eine Räucherkammer verwandelt«, sagt Kriminalhauptkommissar Bethmann kurz darauf. »Jetzt müssen wir herausfinden, wie er das angestellt hat. Warum hat der Rauchmelder draußen im Gang nicht Alarm geschlagen? Und was hat
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