Die Kleinbürger (German Edition)
sind bei Tisch, wie ich Ihnen schon sagte, und man bricht nicht derart in eine Wohnung ein.«
Thuillier erblaßte; seit der Beschlagnahme der Broschüre glaubte er bei jedem unerwarteten Besuch die Polizei erscheinen zu sehen.
Unter andern Regeln, die Brigitte von Frau von Godollo eingeschärft worden waren, mußte am häufigsten die wiederholt werden, daß die Herrin des Hauses, wenn sie der Tafel präsidiert, sich nur erheben darf, um das Zeichen zu geben, daß die Mahlzeit beendet ist; da aber unter diesen Umständen eine Ausnahme verzeihlich war, so stand sie auf und sagte schnell zu Thuillier, dessen Unruhe sie bemerkt hatte:
»Ich werde nachsehen, was es gibt. – Was ist denn los?« fragte sie den Diener, sobald sie auf dem Kampfplatz erschienen war.
Der Herr will durchaus hinein und sagt, daß man um acht Uhr nicht mehr bei Tisch sitzt.«
»Aber wer sind Sie denn?« sagte Brigitte zu einem alten ziemlich merkwürdig gekleideten Mann, dessen Augen mit einem Schirm geschützt waren.
»Gnädige Frau, ich bin weder ein Bettler noch ein Armer«, erwiderte der Greis mit schallender Stimme. »Ich heiße Picot und bin Professor der Mathematik.«
»Aus der Rue du Val-de-Grâce?« fragte Brigitte.
»Jawohl, Nummer 9, neben der Fruchthändlerin.«
»Aber treten Sie doch ein, mein Herr, wir sind sehr glücklich, Sie bei uns empfangen zu können«, sagte Thuillier, der sich nach Feststellung seiner Identität auf den Gelehrten gestürzt hatte.
»Na, du Esel?« rief der Gelehrte und wandte sich nach der Seite, wo er vorher den Diener gesehen hatte, der aber, da er merkte, daß alles freundschaftlich erledigt wurde, fortgegangen war, »habe ich dir nicht gesagt, daß ich hineingehen würde?«
Der Vater Picot war ein hochgewachsener Mann, mit knochigem ernstem Gesicht, dessen kräftige, infolge angestrengter Arbeit bleichen Züge, trotz der Milderung durch eine blonde Perücke mit dicken Locken und einem friedlichen Augenschirm, einen bissigen und kampfbereiten Anstrich aufwiesen; davon hatte er ja auch eine Probe abgelegt, bevor er im Speisezimmer erschien, wo alle aufstanden, um ihn zu begrüßen. Sein Anzug bestand aus einem riesigen Überrock, einem Mittelding zwischen Überzieher und Schlafrock, unter dem eine ungeheure eisengraue Tuchweste, die mit zwei Reihen von Knöpfen wie eine Husarenjacke geschlossen war und vom Nabel bis zum Halse eine Art Harnisch bildete, hervorsah; die Hose bestand, obwohl es bereits Ende Oktober war, aus schwarzem Lasting und verriet ihren langen Dienst durch die helleren Stellen einer sehr deutlichen Ausbesserung, die sich von den beiden glänzenden Flächen des in der Kniegegend abgeriebenen Stoffes abhoben; was aber bei hellem Licht an der Kleidung dieses Gelehrten am meisten auffiel, das waren seine Patagonierfüße in Schuhen aus einem Wollstoff, die sich den hügelartigen Wendungen dieser gigantischen Zwiebelgewächse anpassen mußten und unwillkürlich an den Rücken eines Dromedars oder an eine vorgeschrittene Elephantiasis denken ließen.
Als er auf dem Stuhl Platz genommen hatte, der ihm eiligst hingeschoben war, und alle sich wieder gesetzt hatten, rief der Alte mitten in dem erwartungsvollen Schweigen mit donnernder Stimme:
»Wo ist er, dieser Taugenichts, dieser Lumpenkerl? Er soll sich melden, wenn er wagt, seine Stimme laut werden zu lassen!«
»Wen meinen Sie denn, verehrter Herr?« fragte Thuillier in besänftigendem, ein wenig gönnerhaftem Tone.
»Einen Kerl, den ich nicht zu Hause angetroffen habe, mein Herr, und der sich, wie man mir gesagt hat, in diesem Hause befinden soll. Ich bin doch hier bei Herrn Thuillier, dem Mitgliede des Generalrats, am Madeleineplatz, erster Stock, über dem Zwischengeschoß?«
»Gewiß, mein Herr,« antwortete Thuillier, »und ich füge hinzu, daß Ihnen hier jeder Respekt und volle Sympathie entgegengebracht wird.«
»Und Sie werden gewiß gestatten,« schloß sich Minard an, »daß der Bürgermeister des Bezirks, das dem, in dem Sie wohnen, benachbart ist, sich beglückwünscht, mit Herrn Picot hier zusammen sein zu dürfen, der seinen Namen durch die Entdeckung eines Sterns soeben sicher unsterblich gemacht hat.«
»Jawohl, mein Herr,« erwiderte der Professor und erhob seine Stentorstimme noch mehr, »ich bin Picot (Nepomuk), der, von dem Sie sprechen; aber ich habe keinen Stern entdeckt, ich kümmere mich nicht um solche Albernheiten, ich habe sehr schlechte Augen, und der unverschämte Mensch, den ich bis hierher
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