Die Kleinbürger (German Edition)
gewöhnlich aufhielt, wenn sie nicht mehr Raum brauchte, um ihr vorgebliches Kind im Umhergehen einzuwiegen, als sie plötzlich von einigen meisterhaft auf einem Klavier von herrlichstem Ton angeschlagenen Akkorden aufgehalten wurden.
»Wer ist das?« fragte la Peyrade. »Lydia,« antwortete Corentin mit einem geradezu väterlichen Stolz; »sie ist eine bewunderungswürdige Musikerin, und wenn sie auch nicht mehr, wie zu der Zeit, da ihr Geist noch nicht getrübt war, entzückende Melodien niederschreibt, so zaubert sie doch mit ihren Fingern solche hervor, die mir oft ans Herz greifen ... An das Herz Corentins,« fügte der kleine Alte lächelnd hinzu, »und das bedeutet wohl ein ganz besonderes Lob für die Virtuosin! Aber setzen wir uns und hören wir zu; wenn wir hineingingen, würde das Konzert sofort zu Ende sein und die Konsultation beginnen.« La Peyrade war überrascht, als er eine Improvisation vernahm, bei der die so seltene vollkommene Übereinstimmung zwischen der Inspiration und der kunstvollen Ausführung sein eindrucksfähiges Empfinden ebenso tief wie unerwartet erregte.
Corentin hatte seine Freude an dieser Überraschung, die der Provenzale durch wiederholte Ausrufe des Entzückens zu erkennen gab, und sagte, als ob er seine Ware rühmen wollte: »Was? Das nennt man spielen; Liszt kann ihr nicht das Wasser reichen!«
Auf ein sehr schnelles Scherzo ließ die Spielerin jetzt die ersten Töne eines Adagios folgen.
»Oh,« sagte Corentin, der das Thema erkannte, »jetzt wird sie singen.«
»Sie singt auch?« fragte la Peyrade?
»Wie die Pasta und die Malibran; hören Sie nur!«
In der Tat erklang jetzt nach einigen Takten eines Vorspiels in Arpeggien eine sonore Stimme, deren Ton den Provenzalen bis ins tiefste Innere zu bewegen schien.
»Wie die Musik auf Sie wirkt!« sagte Corentin. »Ihr seid beide füreinander bestimmt.«
Mit einer Handbewegung erlegte la Peyrade ihm Schweigen auf, und als die Töne immer stärker erklangen, ließ ihn seine Erregung in den Ruf ausbrechen, der Corentin seinerseits in lebhaftes Erstaunen zu versetzen schien:
»Oh, mein Gott! Das ist ja dasselbe Lied und dieselbe Stimme!«
»Sollten Sie etwa Lydia schon irgendwo begegnet sein?« fragte der große Polizeimann.
»Ich weiß es nicht ... ich denke, nein,« erwiderte la Peyrade mit stockender Stimme, »oder jedenfalls vor sehr langer Zeit ... Aber dieses Lied ..., diese Stimme ...; mir scheint ...«
»Gehen wir hinein«, sagte Corentin.
Und indem er rasch die Tür öffnete, zog er den Provenzalen mit sich.
Lydia, die mit dem Rücken zur Tür saß und durch die Klänge des Klaviers verhindert wurde, zu hören, was hinter ihr vorging, merkte nichts davon. »Sehen Sie sie an!« sagte Corentin. »Können Sie sich an sie erinnern?«
La Peyrade machte einige Schritte vorwärts, aber kaum hatte er auch nur das Profil der Geisteskranken erblickt, als er, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, laut ausrief:
»Sie ist es!«
»Still!« erwiderte Corentin.
Aber Lydia hatte sich, als Theodosius den Ruf ausstieß, umgewandt, und indem sie ihre Aufmerksamkeit ur auf Gorentin richtete, sagte sie:
»Das ist häßlich und schlecht von Ihnen, daß Sie mich so stören! Sie wissen, ich will nicht, daß man mir zuhört. Ach so, nein, nein!« fuhr sie beim Anblick von la Peyrades schwarzem Rock fort, »Sie bringen mir den Doktor; das ist sehr nett von Ihnen, ich wollte Sie schon bitten, ihn holen zu lassen; die Kleine schreit schon den ganzen Morgen; ich kann noch so viel singen, um sie einzuschläfern, es nützt alles nichts.«
Und sie holte eiligst aus einem Winkel, wo sie aus zwei umgekippten Stühlen und den Kissen des Sofas eine Art Wiege hergestellt hatte, das, was sie ihr Kind nannte.
Lydia ging jetzt auf la Peyrade zu, während sie mit der einen Hand ihr kostbares Bündel hielt und, da sie nur Augen für die törichte Schöpfung ihres kranken Gehirns hatte, mit der andern beschäftigt war, das Mützchen ihrer »geliebten Kleinen« zurecht zu schieben. Aber als sie sich Theodosius näherte, wich dieser zitternd, blaß und mit starrem Blick voll Schrecken vor ihr zurück und hielt erst an, als ihn ein Stuhl, der hinter ihm stand, das Gleichgewicht verlieren ließ, so daß er auf den Sitz hinsank.
Ein Mann von der Klugheit Corentins, der außerdem bis ins kleinste die schreckliche Tragödie, bei der Lydia den Verstand verloren hatte, kannte, hatte bereits alles erraten und begriffen; aber es entsprach seinen
Weitere Kostenlose Bücher