Die Kleinbürger (German Edition)
Cérizet zahlte der Witwe Poiret für sein Frühstück und Mittagessen vierzig Franken monatlich; er hatte sich so, als ihr Pensionär, die Wirtin verpflichtet und ebenso den Weinhändler, dem er einen enormen Absatz in Wein und Schnaps verschaffte, ein Geschäft, das sich vor Tagesanbruch abwickelte. Cadenet machte sein Geschäft noch früher als Cérizet auf, der seine Tätigkeit am Dienstag im Sommer um drei, im Winter um fünf Uhr morgens begann.
Die Stunde, zu der die große Markthalle geöffnet wurde, in der viele seiner Klienten und Klientinnen ihre Beschäftigung hatten, war für seine üblen Geschäfte maßgebend. Deshalb hatte auch der edle Cadenet, mit Rücksicht darauf, daß er diese Kundschaft Cérizet zu verdanken hatte, ihm die beiden Räume für nur achtzig Franken jährlich vermietet und einen Mietkontrakt auf zwölf Jahre abgeschlossen, den nur Cérizet, ohne eine Abstandssumme zahlen zu müssen, alle Vierteljahre kündigen konnte. Cadenet brachte persönlich alle Tage eine Flasche ausgezeichneten Wein für das Mittagessen seines kostbaren Mieters herauf, und wenn Cerizet auf dem Trockenen saß, brauchte er nur zu seinem Freunde zu sagen: »Cadenet, borg mir doch hundert Taler«. Aber er gab sie ihm stets getreulich zurück.
Cadenet besaß, wie es hieß, den Beweis, daß die Witwe Poiret Cérizet zweitausend Franken anvertraut hatte, was das Aufblühen seines Geschäftes seit dem Tage erklären konnte, wo er sich in diesem Viertel mit seinen letzten tausend Franken unter der Protektion Dutocqs etabliert hatte. Cadenet, durch sein erfolgreiches Geschäft geldgierig geworden, hatte seinem Freunde Cérizet zu Beginn des Jahres zwanzigtausend Franken angeboten, aber Cérizet hatte es unter dem Vorwande abgelehnt, daß so etwas leicht der Anlaß zur Feindschaft unter Freunden werden könnte.
»Ich könnte sie nur zu sechs Prozent nehmen,« sagte er zu Cadenet, »und Sie verdienen in Ihrem Geschäft mehr damit ... Später, wenn mal eine gute Sache sich bietet, können wir uns zusammentun; aber für so etwas sind fünfzigtausend Franken erforderlich; wenn Sie über eine solche Summe verfügen können, nun, dann ließe sich darüber reden ...«
Die Angelegenheit mit dem Hause hatte Cérizet Theodosius gebracht, nachdem er festgestellt hatte, daß sie drei, Frau Poiret, Cadenet und er, niemals hunderttausend Franken zusammenbringen konnten.
Der Mann, der diese Leihgeschäfte auf eine Woche machte, war in seinen Rumpelkammern vollkommen in Sicherheit, wo er nötigenfalls auch tätlichen Beistand gefunden hätte. An gewissen Tagen fanden sich bei ihm nicht weniger als sechzig bis achtzig Personen ein, ebensoviel Männer wie Frauen, die teils bei dem Weinhändler, teils im Gange auf den Treppenstufen, teils im Bureau, in das der mißtrauische Cérizet nicht mehr als sechs Personen zu gleicher Zeit hereinließ, warteten. Die zuerst Gekommenen kamen der Reihe nach dran, und da man nur seiner Nummer entsprechend vorgelassen wurde, schrieben der Weinhändler und sein Gehilfe die Nummern den Männern an den Hut, den Weibern auf den Rücken. Wie bei den Droschken auf den Halteplätzen verkaufte man die Vordernummern an die spätern. An manchen Tagen, wo man eilige Geschäfte in der Markthalle hatte, wurde eine Vordernummer mit einem Glas Schnaps und einem Sou bezahlt. Die erledigten Nummern riefen die nachfolgenden in Cérizets Bureau, und wenn sich ein Streit erhob, machte Cadenet dem bald ein Ende mit den Worten:
»Wenn die Wache oder die Polizei geholt werden muß, was hilft euch das? Dann schließt ›er‹ die Bude.«
»Er«, damit bezeichnete er Cérizet. An manchen Tagen, wenn ein verzweifeltes unglückliches Weib, das zu Hause kein Brot hatte und ihre Kinder vor Hunger bleich werden sah, erschien, um sich zehn oder zwanzig Sous zu leihen, so fragte sie den Weinhändler oder seinen ersten Gehilfen: »Ist ›er‹ da?«
Und Cadenet, ein kleiner dicker Mann in blauem Anzug mit schwarzen Schutzärmeln, einer Küferschürze und einer Mütze auf dem Kopfe, erschien solchen armen Müttern wie ein Engel, wenn er antwortete:
»›Er‹ hat gesagt, daß Sie eine ehrliche Frau sind, und daß ich Ihnen vierzig Sous geben darf. Sie wissen, was Sie zu tun haben ...« Und, unglaublich, »er« wurde dafür gesegnet, wie man ehemals Popinot segnete.
Am Sonntagmorgen freilich, wenn man bezahlen mußte, verfluchte man Cérizet; und mehr noch wurde er am Sonnabend verflucht, wenn man arbeiten mußte, um den geliehenen
Weitere Kostenlose Bücher