Die Kleinbürger (German Edition)
Sie mich bedingungslos? ... Selbst wenn ich ein Verbrecher wäre?«
›Sollte er jemanden getötet haben?‹ fragte sie sich.
Sie antwortete nur mit einem Kopfnicken.
Theodosius, glücklich, sich an diesem schwanken Zweige festhalten zu können, ging von seinem Stuhl zu dem Sofa Flavias; hier ergossen sich zwei Tränenströme aus seinen Augen und es entrang sich ihm ein Stöhnen, das einen alten Richter hätte zum Weinen bringen können.
»Ich bin für niemanden zu Hause«, sagte Flavia ihrem Mädchen.
Sie schloß die Türen und näherte sich dann Theodosius, aufs tiefste von mütterlichen Empfindungen bewegt. Der Sohn der Provence lag ausgestreckt, mit zurückgebogenem Kopfe, da und weinte in sein Taschentuch. Als Flavia es ihm wegnehmen wollte, war es von Tränen durchweicht.
»Aber was gibt es denn? Was haben Sie denn?« fragte sie.
Die Natur, die mehr als die Kunst vermag, unterstützte Theodosius wunderbar, der nun keine Rolle mehr spielte, sondern er selbst war, und diese Tränen, dieser Nervenzusammenbruch bewiesen, daß er früher Komödie gespielt hatte.
»Sie sind ein Kind!« ... sagte sie sanft und strich Theodosius übers Haar, dessen Tränen zu versiegen begannen.
»Ich habe ja nur Sie auf der Welt!« rief er und küßte Flavias Hände mit Inbrunst, »und wenn Sie mir nur bleiben, wenn Sie mir gehören, wie der Körper der Seele, wie die Seele dem Körper,« sagte er und entfaltete wieder allen seinen Reiz, als er die Herrschaft über sich zurückgewonnen hatte, »ja, dann werde ich wieder Mut fassen können!
Dann erhob er sich und ging auf und ab.
»Ja, ich will kämpfen, ich werde meine Kraft wiedergewinnen wie Antäus, wenn er seine Mutter umarmte! Und ich werde mit meinen Händen die Schlangen erwürgen, die mich umringelt haben, die mir Schlangenküsse geben, die mir die Wangen bespeicheln, die mir das Blut austrinken und die Ehre vernichten wollen! Ach, das Elend! ... Oh, wie groß sind die, die darin standzuhalten vermögen, mit erhobenem Haupte! ... Ich hätte lieber verhungern sollen auf meiner Matratze vor dreieinhalb Jahren! ... Der Sarg ist ein weiches Bett im Vergleich mit dem Leben, das ich führe! ... Seit achtzehn Monaten arbeite ich daran, ein »ehrsamer Bürger« zu werden! ... und in dem Augenblick, wo ich ein ehrenhaftes, glückliches Leben und eine großartige Zukunft vor mir sehe, in dem Moment, da ich mich an die Festtafel des Lebens setzen will, da schlägt mir der Henker auf die Schulter ... Ja, dieses Ungeheuer! Es hat mich auf die Schulter geschlagen und gesagt: ›Zahle dem Teufel deinen Tribut oder stirb!‹ ... Und ich sollte sie nicht niederschlagen ... ich sollte ihnen nicht die Faust in den Rachen bis hinab in die Eingeweide stoßen können? ... Oh ja, ich werde es tun! Flavia, sind meine Augen wieder trocken? ... Ach, jetzt lache ich wieder, ich fühle meine Kraft und meine Macht zurückkehren ... Oh, sagen Sie mir, daß Sie mich lieben, ... sagen Sie es noch einmal! Das ist für mich, wie wenn ein Verurteilter das Wort ›Gnade‹ hört!« ...
»Sie sind schrecklich, lieber Freund!« ... sagte Flavia; »ach, ich bin wie zerbrochen.«
Sie begriff nichts und sank wie leblos auf das Sofa, entsetzt über dieses Schauspiel; Theodosius kniete jetzt vor ihr nieder.
»Verzeihung! ... Verzeihung!« ... sagte er.
»Aber was ist Ihnen denn nun eigentlich?« fragte sie.
»Man will mich zugrunde richten. Oh, sagen Sie mir Celeste zu, und Sie werden sehen, was für ein herrliches Leben Sie mit uns führen werden. Wenn Sie zögern ... nun gut, das heißt, daß Sie mir gehören wollen, dann werde ich Sie mir nehmen! ...«
Er machte eine so heftige Bewegung, daß Flavia erschrocken aufstand und auf und ab ging ...
»Oh, Engel, hier sehen Sie mich zu Ihren Füßen ... Aber was für ein Wunder geschieht mir?! Gott steht mir zur Seite, das ist ganz sicher! Das ist wie eine Erleuchtung. Mir kommt plötzlich eine Idee! ... Oh, ich danke dir, du mein Schutzengel, du großer Theodosius! ... Du hast mich gerettet!«
Flavia staunte diese Chamäleonsnatur an: ein Knie am Boden, die Hände über der Brust gekreuzt und die Augen nach oben gerichtet, sprach er in religiöser Ekstase ein Gebet und bekreuzigte sich wie der gläubigste Katholik. Er war ein Bild, so schön wie das Abendmahl des heiligen Hieronymus.
»Adieu«, sagte er mit melancholischer verführerischer Stimme.
»Oh,« rief Flavia, »lassen Sie mir Ihr Taschentuch.«
Theodosius rannte wie ein Irrsinniger davon und
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