Die Klinge
Tunnel?«
»Nicht lange«, beruhigte sie Tweed. »In zehn Minuten sind wir schon wieder draußen.« Ihm war nicht entgangen, dass seine sonst so gelassene Assistentin nervös die Hände zu Fäusten geballt hatte. Beruhigend redete er weiter auf sie ein. »Am anderen Ende des Tunnels liegt Airolo, und dahinter beginnt das Tessin, das Ihnen bestimmt gefallen wird. Sie werden sehen, wie schnell wir wieder draußen sind.«
Wie schnell? Paula fühlte sich in dem Tunnel wie eingeschlossen. Und was, wenn es mitten drinnen ein Zugunglück gab? Sie wagte es sich nicht auszumalen. Vom hinteren Ende des Zuges her näherte sich jemand mit lauten Schritten ihrem Abteil, blieb direkt davor stehen und öffnete langsam die Tür. Es war ein schlanker, schwarzhaariger Mann, der einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte in gedeckten Farben trug. Sieht aus wie ein typischer Schweizer Bankier, dachte Newman, als er die Goldrandbrille und den großen Aktenkoffer des Mannes sah.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann, »ich suche den Speisewagen.«
»Dort geht es lang«, antwortete Newman und deutete in die Richtung.
Der Bankier machte die Tür wieder zu und verschwand in Richtung Speisewagen. Luigi wusste jetzt, dass sich die
Tür fast lautlos öffnen ließ, wenn die Zeit dafür gekommen war. Paula runzelte die Stirn. Ihr war aufgefallen, dass Tweed mit der rechten Hand in die Jacke gegriffen und sie noch nicht wieder herausgenommen hatte.
»Irgendwo habe ich diesen Mann schon einmal gesehen«, sagte sie.
»Diese Typen laufen hier in der Schweiz doch zu Dutzenden herum«, sagte Newman abfällig. »In Zürich kann man sie jeden Morgen beobachten, wie sie in ihre Büros hasten.«
Paula sah zu Tweed hinüber, der die rechte Hand immer noch in die Jacke geschoben hatte, und schmunzelte. »Sie sitzen da wie Napoleon höchstpersönlich.«
»Nicht ganz«, sagte er trocken, »mir fehlt die passende Kopfbedeckung dazu.«
Nervös nahm Paula ihren Beobachtungsposten am Fenster wieder ein und spähte angestrengt in den dunklen Tunnel hinaus, dessen schwarze Wand erschreckend nahe am Zug vorbeizog. Wie lange dauerte die Fahrt durch dieses Höllenloch denn noch? Leider hatte sie versäumt, auf die Uhr zu sehen, als Tweed gesagt hatte, es würde noch zehn Minuten dauern. Es kam Paula, die zwar schwindelfrei war, dafür aber umso stärker unter Klaustrophobie litt, eher wie zehn Stunden vor.
Dann aber waren sie plötzlich wieder draußen. Der Zug fuhr jetzt bergab. Hier, auf der anderen Seite der Berge, schien die Sonne nicht mehr, und der Himmel war mit Wolken bedeckt. Eigentlich hatte Paula etwas ganz anderes erwartet. Wo waren die versprochenen Palmen, die Zypressen und die exotischen Pflanzen in schillernden Farben?
»Jetzt kommen wir gleich durch Airolo«, sagte Tweed.
Seit der Zug wegen des steilen Abstiegs seine Fahrt verlangsamt hatte, war es Paula wieder möglich, Einzelheiten ihrer Umgebung zu erkennen. Sie fuhren an riesigen Geröllhalden entlang, die unterhalb der höchsten Gipfel der
Berner Alpen lagen. Paula kam diese Landschaft ohne die Spur einer menschlichen Behausung wie eine Felswüste vor. Nach einer Weile passierte der Zug Airolo, eine kleine Ortschaft mit engen Gassen und grauen, aus Stein und Holz erbauten Häusern. Und dann, sie hatten Airolo gerade hinter sich gelassen, erblickte Paula etwas, was sie den Atem anhalten ließ.
Etwa einen halben Kilometer hinter dem Ort, wo es bereits leicht bergab ging, erhoben sich am Berghang zwei mächtige Türme, die durch eine Mauer miteinander verbunden waren. Graue Wolkenfetzen drückten von den Bergen herab, und Paula verspürte beim Anblick der Türme ein merkwürdiges Gefühl der Bedrohung. Von Airolo aus führte eine Straße hinauf zu den Türmen, hinter denen nur ein schmaler Fußpfad weiter den Berg hinauflief. Inzwischen hatten die Wolken sie fast erreicht, aber irgendetwas schien sie daran zu hindern, das düstere Bollwerk einzuhüllen. Warum wirkt dieser Anblick nur so unheimlich auf mich?, überlegte Paula.
»In der Gegend von Airolo wurde vor vielen Jahrhunderten Erz abgebaut«, sagte Tweed und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Es wurde auf kleinen Loren durch in den Fels gehauene Gänge ins Freie transportiert. Als die Erzvorräte erschöpft waren, hat man die Grubenbahnen stillgelegt.«
Während der Cisalpino seine Fahrt hinunter ins Tessin fortsetzte, lehnte Paula sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Selbst jetzt sah sie die
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