Die Klingen der Rose: Ein unwiderstehlicher Schurke (German Edition)
ihr allmählich zu Bewusstsein kam, was ihr neues Dasein tatsächlich bedeutete, tat sich in ihr eine tiefe Kluft auf. Sie hatte kein Zuhause und keine Freunde mehr. Sie war praktisch eine Waise. Doch anstatt sich von jenem Schlund, der sich da geöffnet hatte, verschlingen zu lassen, suchte sie sich ständig neue Beschäftigungen. Wenn es an Land keinen Platz für sie gab, wollte sie sich einen auf dem Meer erobern.
Die Dampfer, mit denen sie von England nach Griechenland gereist war, und selbst das kleine Schiff von Athen nach Delos, hatten sich Rauch speiend und lautstark über das Wasser gekämpft. Schon da hatte sie Gefallen am Meer gefunden. Auf diesem elegant durch die Ägäis gleitenden Kaik allerdings empfand London eine geradezu überwältigende Liebe für das glitzernde saphirblaue Wasser und den klaren Himmel, genau wie für die weißgrünen Inseln, die ein gnädiger Gott so großzügig verteilt hatte. Hier draußen konnte sie so tun, als sei sie ein Geschöpf der Natur, für das es nur Sonne, Wind und Wasser gab. Das Meer vermittelte ein Gefühl unendlicher Freiheit, doch zugleich kam sie sich in seinen Weiten selbst winzig klein vor. Auch sie war eine einsame Insel inmitten endloser Wasser. Ihr neues Leben erschien ihr süß und bitter in einem.
Alles musste sie erst lernen. Nur im Reich der Sprachen kannte sie sich aus. Worte in all ihren Erscheinungsformen verliehen ihr Kraft. Daran klammerte sie sich mit einem gewissen Stolz.
Nikos Kallas war ein barscher, bulliger, kleiner Mann, aber auch ein guter Lehrer. Er erklärte ihnen den Aufbau der Segel und Masten, die zahlreichen Seile und Leinen. Außerdem brachte er ihnen bei, woran man einen guten Wind erkannte und wie man ihn nutzte. Jeder von ihnen übernahm einmal das Steuer, auch Athene und London. Dieses Privileg stand sonst nur dem Kapitän zu. Er liebte sein Boot und lenkte es mit größtem Stolz.
Bei strahlendem Sonnenschein zankten Athene und Kallas über den Gott Zeus. Athene hielt ihn für einen hartherzigen Schürzenjäger, dessen Kavaliersdelikte den Menschen viel Leid beschert hatten. Kallas bestand darauf, dass es sein natürliches Recht als Gott sei, viele Frauen an seiner Herrlichkeit teilhaben zu lassen. Heras Forderungen nach Treue fand er übertrieben, sie stünden ihr gar nicht zu. Und weder Athene noch der Kapitän waren bereit, von ihrem Standpunkt abzurücken.
London hörte ihnen zu, während sie mit einem Stück Seil, das sie sich von Kallas geliehen hatte, Seemannsknoten übte. Achter, Affenfäuste, Türkenköpfe. Die Schlaufen und Verknüpfungen hatten alle eine eigene Persönlichkeit. Sie saß im Schneidersitz an Deck und arbeitete, bis sich ihre Hände rot färbten und pochten. Und selbst dann hörte sie nicht auf, weil sie sonst mit ihren Gedanken allein gewesen wäre.
»Passen Sie auf. Sie ruinieren sich noch Ihre Hände.«
Sie sah hoch zu Day, dann wieder hinunter auf das Seil in ihren Händen. Sein Anblick ließ ihr Herz höher schlagen. In der heißen Nachmittagssonne hatte er Jacke und Weste abgelegt und trug lediglich eng anliegende Hosen, Hosenträger, hohe Stiefel und ein Hemd. Der Kragen stand offen, die Ärmel hatte er aufgerollt, sodass sein sehniger Hals, die muskulöse Brust und die kräftigen Unterarme zum Vorschein kamen. Wie eine Liebste zerzauste der Wind ihm die Haare.
»Die Knoten haben eine eigene Sprache«, sagte sie. »Und ich werde sie lernen.« Sie hoffte, dass er die Röte ihrer Wangen auf die Sonne zurückführte.
Er nahm ihr das Tau aus den Händen und wickelte es so auf, wie Kallas es ihnen gezeigt hatte. Sie konnte den Blick nicht von Days schlanken flinken Fingern wenden. Sie waren so geschickt und zugleich so unglaublich männlich.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Joseph Edgeworth die Sprachstudien seiner Tochter gefördert und unterstützt hat«, sagte er. »Ich dachte, Frauen seien für die Erben nur dekoratives Beiwerk.«
»Das stimmt. Ich bin …«, hob sie an und korrigierte sich dann, »… war sozusagen nicht normal. Niemand wusste davon. Es war mein Geheimnis. Ich habe es mir selbst beigebracht.«
»Wie?«
»Es begann damit, dass ich zufällig ein Lateinbuch meines Vaters fand. Da muss ich fünf oder sechs gewesen sein. Tacitus’ Annalen . Das war der Anfang.«
»Verdammt, als ich fünf war, habe ich meinem Bruder Schnecken in den Kragen gesteckt, aber keine römischen Historiker gelesen.«
Unwillkürlich erschien ein Lächeln auf Londons Gesicht, das sie jedoch
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