Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
auf der anderen Seite der Berge zu gelangen. Zunächst klang Thalias Stimme dünn und schrill, doch nach der ersten Strophe gewann sie an Mut und brachte die Worte kraftvoll hervor. Sie hob die Lider und sah Gabriel direkt in die Augen.
Es war ein bekanntes Lied, das häufig gesungen wurde. Die Menschen hörten immer wieder gern von der Kraft und der Ausdauer der Liebe, die alle Widerstände überwand. Thalia stellte sich ihr eigenes Herz als stolzes, verletztes Tier vor, das durch die Steppen jagte, und Gabriels Herz als wilde Kreatur. Es schien ihr seltsam und zugleich richtig, dass sie einander begegnet waren. Doch es gab auch Zweifel. Genährt von gefährlichen Feinden. Von der ungewissen Zukunft. Da er den Text ohnehin nicht verstand, drückte sie ihre Gefühle durch das Lied aus. Ihre Sehnsucht. Ihre Angst. Und ihr nicht zu leugnendes Verlangen nach ihm.
Während sie sang, glitt ihr Blick zu ihm. Sein Kiefer wirkte angespannt, seine Nasenflügel leicht gebläht, seine Brust hob und senkte sich rasch. Er verschlang sie mit seinen Blicken. Ein sinnliches Raubtier, unglaublich begehrenswert, und doch begehrte er sie . Sein Blick war voll dunkler Verheißung, die sie nur zu gern erfüllen wollte. Selbst während sie vor diesen ganzen Menschen stand, sammelte sich feuchte Lust zwischen ihren Beinen, und ihre Brüste fühlten sich prall und empfindlich unter der Seide ihres Dels an. Wäre sie nicht so heftig erregt und nur auf Gabriel fixiert gewesen, hätte sie es als unangenehm empfunden.
Erst als sich das Zelt mit lautem Beifall füllte, realisierte Thalia, dass sie das Lied beendet hatte. Sie sah sich um. Oyuum strahlte sie an, und Bold nickte ihr anerkennend zu. Batu runzelte die Stirn, denn er verstand nicht nur die Bedeutung des Liedes, sondern wusste auch, für wen sie es gesungen hatte. Er wollte sie beschützen, aber er durfte sie jetzt nicht abschotten. Thalia hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie suchte mit den Blicken nach Gabriel. Doch er war weg.
Sie trat zurück in die Menge. Hinter ihr wetteiferten drei junge Mädchen darum, volle Schalen mit Arkhi auf Händen, Köpfen und Füßen durch die drängende Menge zu tragen. Nachdem Thalia Gabriel im Zelt nicht fand, schlüpfte sie leise hinaus in die Nacht. Nach der drückenden Hitze tat die schneidende Kälte hier draußen gut. Ihre Augen brauchten einen Augenblick, um sich an die dunkle Nacht zu gewöhnen.
Sie spähte suchend in die Dunkelheit. Keine Spur von Gabriel. Panik ergriff sie. War ihm etwas geschehen? Waren die Erben gekommen? Oder machte sie sich unnötig Sorgen? Vielleicht musste er sich nur erleichtern. Gerade drängten ein paar Männer an ihr vorbei in das Ger und richteten ihre Hosen, um die nächste Trinkrunde in Angriff zu nehmen.
Doch nachdem sie ein paar Minuten gewartet und er ausreichend Zeit gehabt hatte, sein körperliches Bedürfnis zu befriedigen, war Gabriel immer noch nicht aufgetaucht. Kurz rang sie mit sich, doch nachdem sie sich rasch davon überzeugt hatte, dass ihr Jagdmesser noch in seiner Scheide steckte, machte sie sich auf die Suche.
Im Ger des Anführers fand Thalia nur Bolds alte Großmutter, die auf die kleinen spielenden Kinder aufpasste. Die Frau hatte Gabriel nicht gesehen und riet Thalia, zum Fest zurückzukehren.
»Hier draußen bei uns alten Leuten und den Babys wirst du keinen Ehemann finden«, kicherte sie.
Thalia dankte ihr und ging. Anstatt dem Rat der Großmutter zu folgen, steckte Thalia ihren Kopf in andere Gers , doch sie waren entweder leer oder es fanden sich nur ältere Menschen oder Kinder darin. Niemand hatte Gabriel gesehen. Aus einem der Gers borgte sie sich eine Öllampe.
Suchend lief sie mit der Lampe in der Hand durch das Ail. Sie redete sich ein, dass sie sich keine Sorgen machen müsse. Er war Soldat und durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen. Doch ein Mann verschwand nicht einfach ohne Erklärung aus einem vollen Zelt. Die Erben konnten unzählige Quellen oder Zaubersprüche benutzt haben, damit er sich auflöste. Zum ersten Mal wünschte Thalia, dass der Moralkodex der Kämpfer der Rose etwas weiter gefasst wäre. Am liebsten riefe sie ein paar böse Dämonen herbei, damit sie die Erben aufspürten und ihre elenden Leiber in Stücke rissen. Wenn Gabriel allerdings irgendetwas zustieß, würde Thalia den Erben höchstpersönlich die Knochen brechen.
Ihr Atem ging stoßweise, und als sie rannte, mischten sich ihre Atemwolken mit der kühlen Luft. Die Perlen und
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