Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
sich jedoch niemand direkt beschwert oder verächtlich über ihre Teilnahme an dem Turnier geäußert.
Doch diese Einschätzung schien etwas voreilig, denn in dem Augenblick betrat Tsend mit seinem Bogen das Ger und sah sich in dem Zelt um. Thalia wäre am liebsten auf ihn losgestürzt und hätte ihm ihren Ellbogen gegen den Hals gerammt. Gabriels Wunden wirkten zwar nicht gefährlich, aber jede Verletzung könnte ihn im weiteren Wettkampf behindern. Der Gedanke, dass sie von diesem Schläger stammten, schien unerträglich. Sie schaffte es jedoch, sich zu beherrschen. Streitereien waren beim Nadaam verboten. Sie musste ihren Hass kanalisieren, um beim Bogenschießen den Sieg davonzutragen.
Als Tsends Blick auf Thalia fiel, brach er in ein harsches Lachen aus und deutete spöttisch auf sie. Die meisten der anderen Wettstreiter wandten peinlich berührt den Blick ab.
»Du « , schnaubte er. »Sind die englischen Männer so schwach, dass sie sich durch ihre Frauen vertreten lassen müssen?«
»Du musst ja sehr an deinen Fähigkeiten zweifeln«, entgegnete Thalia kühl. »Wieso solltest du dich sonst über jemanden lustig machen, der dir so deutlich unterlegen ist?«
»Ich zweifle an gar nichts«, zischte er zurück. Er war es eindeutig nicht gewohnt, dass man ihn provozierte.
»Heute ist ein guter Tag, um damit anzufangen.«
Der riesige Mongole machte einen bedrohlichen Schritt auf Thalia zu. Er überragte sie mindestens um einen Kopf und brachte deutlich mehr Gewicht auf die Waage. Anstatt zurückzuweichen, sah sie ihm direkt in die Augen und tat gelangweilt. Als er merkte, dass sie sich nicht so leicht einschüchtern ließ, wandte er sich ab, murmelte etwas vor sich hin und richtete mit großer Geste seinen Bogen.
Thalia ließ langsam den Atem entweichen und hielt ihre Hände fest, damit sie nicht zitterten. Von dem Kerl ließ sie sich nicht verunsichern.
Ein Mann aus dem Dorf steckte den Kopf in das Ger . »Der Wettbewerb beginnt. Bitte kommt hinaus auf das Feld.«
Sie und sieben andere Bogenschützen verließen mit ihrem Bogen und einem Bündel markierter Pfeile nacheinander das Zelt. Thalia achtete darauf, dass ein paar Männer zwischen ihr und Tsend gingen. Als die Schützen aus dem Zelt traten, brach die Menge in Jubel aus. Thalia suchte sofort nach Gabriel. Er war schwer zu übersehen. Groß und breitschultrig, mit der Ausstrahlung eines echten Kämpfers, blickte er sie aus seinen strahlenden, wachen Augen an. Augenblicklich flammte Lust in ihr auf, und in ihre Angst vor dem Bogenschießen mischte sich heftiges Begehren. Dieser Kuss direkt nach dem Pferderennen … und was sie gestern Abend getan hatten … was er für Gefühle in ihr auslöste …
Sie durfte sich nicht verrückt machen. Wenn sie sich nicht konzentrierte, versagte sie womöglich im wichtigsten Augenblick ihres Lebens, und sie verlor alles, einschließlich sich selbst. Und dann war es egal, ob sie Gabriel noch einmal berühren oder küssen konnte. Dann war alles egal.
Sie nickte ihm kurz zu, und er erwiderte ihr Nicken ebenso knapp. Selbst aus der Ferne war seine Anspannung nicht zu übersehen, seine Hände waren zu Fäusten geballt. Zweifelte er etwa an ihr?
Thalia richtete den Blick nach oben und beobachtete die vorüberziehenden Wolken. Um sicherzugehen, dass sie die Windrichtung richtig einschätzte, hob sie etwas Staub vom Boden auf und ließ ihn vom Wind davontragen. Rasch stellte sie ein paar Berechnungen an. Der Wind wehte zwar nicht stark, aber stark genug, um den Flug des Pfeils zu beeinträchtigen. Das musste sie beim Schießen berücksichtigen.
Sie straffte die Schultern und wandte ihre Aufmerksamkeit Bold zu, der zu den Wettstreitern sprach.
»Die Scheiben sind dort«, erklärte er und deutete auf das beinahe hundert Yards entfernte Ziel. Thalia bemerkte die kleinen ledernen Zielscheiben, die in größerer Entfernung als bei den meisten Nadaam -Festen aufgebaut waren. Noch nie hatte sie aus so großer Entfernung geschossen. »Ihr dürft dreimal schießen. Nur vier von euch rücken in die nächste Runde des Turniers vor. Schießt erst auf mein Zeichen. Mögen die Götter euch leiten.«
Thalia schluckte schwer, als sie und die anderen Bogenschützen ihre Plätze einnahmen. Die Sonne brannte heiß auf Schultern und Rücken. Sie legte den Pfeil an, hob den Bogen und spannte die Sehne mit dem Daumen. Ihr Arm zitterte leicht. Es war schwieriger als sonst. Als hielten alle Mitglieder der Klingen, die Erben von Albion sowie
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