Die Klingen der Rose: Jenseits des Horizonts (German Edition)
etwas im Schilde führten. Ihn plagte sein Gewissen. Durften sie den wertvollen Schatz des Stammes einfach mitnehmen? Selbst wenn sie dadurch ein größeres Gut schützten?«
Der Wächter des Rubins trat vor und öffnete seine Kiste. Wieder beeindruckten Gabriel die Größe und die glänzende dunkelrote Farbe des ungeschliffenen Edelsteins. Ungeachtet seiner magischen Kräfte würden skrupellosere Männer sogar kleine Kinder und Nonnen töten, um in den Besitz eines so unglaublichen Gegenstandes zu gelangen.
»Sprecht mir nach«, befahl der Wächter. »Bei meiner unsterblichen Seele schwöre ich unter der unendlichen Weite des Himmels, dass ich mich bis zum nächsten Kreislauf der Sonne nicht von diesem Stein, dem Stolz von Generationen, trennen werde. Ein Jahr und einen Tag lang. Wenn dem Stein während meiner Wache durch meine Gier oder meine Dummheit etwas geschieht, soll mich die Qual von tausend brennenden Pfeilen treffen.«
Daraufhin wiederholte Thalia den Schwur auf Mongolisch, Gabriel auf Englisch. Er versuchte, die Angelegenheit nüchtern zu betrachten. Er würde nicht zulassen, dass der Rubin irgendwie Schaden erlitt, doch das beruhigte ihn nur wenig. Vielleicht hatte Thalia recht, und sie sollten dem Stamm einfach sagen, dass der Stein unendliche Macht besaß. Dann wollten die Mongolen seine Kraft aber womöglich für sich nutzen und würden nicht zulassen, dass die Klingen der Rose ihn sicher verwahrten. Von Rechts wegen gehörte er dem Stamm.
Gabriel verzog innerlich das Gesicht zu einer Grimasse. Während seines Dienstes in der Armee hatte er es zwar häufig mit Grenzfällen zu tun gehabt, doch an so komplizierte Sachverhalte war er nicht gewohnt.
Mit ein paar Worten trat Bold vor, und Thalia streckte die Hand aus. Als er hörte, wie zischend ein Messer aus einer Scheide gezogen wurde, sprang Gabriel auf. Er trug weder Waffe noch Messer bei sich, doch schließlich besaß er noch seine Fäuste.
Thalia legte eine Hand auf sein Bein und hielt ihn davon ab, Bold die Klinge aus der Hand zu schlagen. »Es ist ein Blutschwur«, erklärte sie ruhig. Der Wächter des Rubins streckte ebenfalls die Hand aus, und Gabriel sah die blasse Narbe in seiner Handfläche.
»Es ist nicht nötig, dass du dich auch schneiden lässt«, knurrte Gabriel.
»Ich werde den Rubin ebenfalls bewachen«, antwortete sie. »Also muss ich es tun. Ich habe keine Angst.«
Gabriel grummelte, kniete sich jedoch wieder hin. Es war ihm unangenehm, dass Thalia verletzt wurde. Bold nahm die Klinge und ritzte sich die Haut; eine Spur leuchtend roten Blutes trat hervor. Er zischte leise vor Schmerz. Ohne zu zucken oder zu zittern, streckte Thalia dem Anführer ihre Handfläche entgegen. Gabriel biss die Zähne zusammen, als die Klinge in ihre Haut schnitt. Doch sie gab keinen Ton von sich. Lediglich ein etwas angespannter Zug um ihren Mund verriet, dass sie Schmerz empfand. Sie presste ihre Handfläche auf Bolds und sprach dabei ein paar Worte auf Mongolisch.
Dann war Gabriel an der Reihe, der den Schnitt stoisch ertrug. Er nahm Bolds Hand und vermischte das Blut mit seinem. »Ich schwöre, dass ich diesen Schatz und die Frau, die ihn bewacht, mit meinem Leben schützen werde«, schwor Gabriel.
Thalia, die seine Worte als Einzige verstand, sah ihn überrascht an. Doch er hatte die Worte so ernst gesprochen, dass sie Bold, Oyuun und vor allem den Wächter des Rubins überzeugt hatten. Mit einer Verbeugung überreichte er die Kiste mit dem Stein Thalia und Gabriel. Von dem Wächter fiel sogleich deutlich die Anspannung ab, und er lächelte zum ersten Mal. Erst sagte er etwas zu Thalia und Gabriel, dann sprach er mit Bold und Oyuun, bevor er mit federndem Gang rasch aus dem Ger verschwand. Gabriel fragte sich, was er sich mit dieser Pflicht wohl aufgeladen hatte.
Oyuun trat strahlend nach vorn und sprach aufgeregt zu Thalia und Gabriel. »Jetzt wird euch eine weitere Ehre zuteil«, sagte die Frau des Anführers und führte sie nach draußen. »Alle Wächter des Rubins bewohnen das Jahr über ein eigenes Ger . Unsere Kinder werden eurer Gepäck dorthin bringen.«
»Was ist mit Batu?«, fragte Gabriel, während sie Oyuun folgten.
Errötend erwiderte Thalia: »Er wohnt weiterhin bei seinem Cousin. Wir sind also … allein.«
Allein mit Thalia. Lieber Herrgott im Himmel. Was für ein Geschenk.
Oyuun blieb vor einem Ger stehen. Die Tür stand offen. Es war leer, jedoch mit den üblichen Möbeln eingerichtet, wozu – Allmächtiger! –
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